Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)
ergrautes Haupt. »Verzeiht, meine Dame. Den Herrn Reimar findet ihr im Stall bei den Schafen, wo er die Vollständigkeit der Herde prüft.«
Die älteren Ritter wandten sich wieder ihren vorherigen Tätigkeiten zu. Der Spaß war vorbei. Die jungen senkten immer noch grinsend die Köpfe. Allzu oft schon hatte Wirtho darauf hingewiesen, dass Arigund keine »edle Dame« sei, sondern nur ein »Krämermädchen« aus der Stadt, und was von denen zu halten sei, das wisse doch wohl jeder. Insgeheim schlossen sie Wetten ab, wem die »Kleine« ihre Gunst als Erstem gewähren würde. Der Waffenmeister blickte finster in die Runde. »Es wütet ein übles Wetter draußen. Ich begleite euch besser.«
Seine mächtigen Arme stießen die beschlagene Tür der Waffenkammer auf. Arigund folgte der Aufforderung und wandte sich zum Gehen. Im Gang blieb der riesige Mann stehen und versperrte dem Mädchen den Weg. »Auf ein Wort, meine Dame.«
Arigund sah erwartungsvoll zu ihm hoch.
»Die Waffenkammer ist kein Ort für ein Mädchen. Falls die Herrin Euch noch einmal nach einem Ritter sendet, so beauftragt einen Knecht, den Gang für Euch zu machen.«
Sein Tonfall zeigte deutlich, dass er Arigund die Lüge nicht abgenommen hatte. Sie senkte den Kopf. Immerhin hatte er sie nicht vor den anderen Männern bloßgestellt und verlor keine weiteren Worte. Mit mächtigen Schritten wandte er sich den Ställen zu. Sobald sie das schützende Gebäude verlassen hatten, klatschten ihnen Wasserfluten ins Gesicht. Es schien keinen Unterschied mehr zwischen Himmel und Erde zu geben. Arigunds Kleid war komplett durchnässt, obwohl es nur wenige Schritte bis zum Schafstall waren. Dort roch es muffig. Eine Dampfwolke umgab die aufgeregten Muttertiere, die hektisch nach ihren Lämmern blökten. Ein Hirte hing halb auf den hölzernen Stangen des Pferchs und versuchte den Überblick zu behalten, ein anderer warf Heu in die Raufen. Er schaute neugierig herüber, als er den Waffenmeister erkannte. Der Ritter betrat den Schafstall nur selten.
»Bursche, wo ist der Herr Reimar?«, herrschte der Waffenmeister den Schafhirten an.
»Ich weiß es nicht, Herr«, antwortete der Knecht.
»Überwachte er nicht den Auftrieb der Schafe?«, hakte der Ritter nach.
»Gewiss, Herr. Vorhin zählte er die Tiere. Dann verließ er den Stall.«
»Und wo ist er hin?«
»Ich nehme an, er ist in der großen Halle.«
»Dort ist er nicht«, widersprach Arigund. »Und auch sonst nirgendwo. Ich habe schon überall nachgesehen.«
Der Waffenmeister durchbohrte den Hirten mit seinem Blick.
»Du weißt doch was!«, herrschte der Ritter den Mann an. Der Knecht drehte die Mütze in den Händen. »Herr, es fehlt eines der Schafe, genauer gesagt das Lieblingsschaf der Herrin.«
»Tölpel, hast du es etwa verloren?« Der Waffenmeister versuchte den Hirten an den Haaren zu packen, der aber duckte sich und flüchtete hinter einen Balken.
»Ich hab es behütet wie meinen Augapfel, und es war gewiss den ganzen Tag bei der Herde, aber dann mussten wir sie rasch zurück zur Burg treiben, wegen des Wetters. Vielleicht hat sich das Schaf verkrochen. Es steht kurz vor dem Lammen. Da sind die Schafe oft eigenwillig.«
»Verdammt sollst du sein!«, fluchte der Ritter.
Arigund blieb beinahe das Herz stehen. Reimar würde doch nicht bei diesem Unwetter wegen eines Schafs die sichere Burg verlassen?
»Man muss einen Suchtrupp zusammenstellen!«, forderte Arigund, und ihre Stimme nahm einen schrillen Ton an.
»Ich weiß selbst, was ich zu tun habe!«, knurrte der Ritter. »Ihr geht jetzt erst einmal in die große Halle zurück.« An den Schafhirten gewandt fuhr er fort: »Wo stand die Herde zuletzt?«
»Auf der unteren Hangweide, dort wo vor Kurzem die jungen Stuten weideten.«
»Wenn Reimar klug war, so hat er im Wald Schutz gesucht«, murmelte der Ritter.
»Oder unter der Eiche«, meinte Arigund und erntete einen scharfen Blick des Waffenmeisters.
»Woher kennt Ihr denn diesen Baum?«, rutschte es ihm heraus.
Arigund kam nicht mehr dazu zu antworten. Ein gewaltiger Blitz, begleitet von einem lauten Knall, ließ sie zusammenzucken. Das Dach hallte wider von heftigem Trommelwirbel. Arigund rannte zur Tür und spähte hinaus. Hagelkörner von der Größe reifer Kirschen prallten auf den Burghof.
Reimar wird gewiss erschlagen!, fuhr es Arigund durch den Kopf, und zu ihrem eigenen Erstaunen sammelten sich Tränen in ihren Augenwinkeln. Ein weiteres gewaltiges Krachen ließ die Wände beben.
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