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Die Wanifen

Die Wanifen

Titel: Die Wanifen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Anour
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lagen.

Kapitel 13
    Eine Woche vor dem Blutmond …
     
     
     
    D ie Hitze des Sommertags wich allmählich der angenehmeren Kühle des Abends. Die Eintagsfliegen tanzten über den stillen Wassern des kleinen Sees und forderten die Forellen geradezu heraus, nach ihnen zu schnappen. Mehr als ein Jahr war vergangen, seit Gorman sie zum ersten Mal an diesen Ort geführt hatte. Ainwa hatte sich zwischen den blauen Blüten des Eisenhuts ausgestreckt und blickte auf die Berghänge, die im Licht der Abendsonne glühten.
    Gorman lag mit geschlossenen Augen neben ihr und zupfte ab und zu an der Angelschnur, die er in den See geworfen hatte. Sie hatte ihm beigebracht, wie man Angelhaken aus Knochen schnitzte – eine der wenigen Fähigkeiten, die sie sich noch von der Zeit bei ihrem Vater bewahrt hatte. Natürlich hatte Gorman die Technik sofort verbessert und fertigte nach kurzer Zeit wesentlich bessere Haken an, als sie es je gekonnt hätte.
    Ainwas Blick glitt über Gormans entspannte Miene, die Tätowierung auf seiner Schläfe, einen Marienkäfer, der gerade über einen seiner kleinen Zöpfe krabbelte.
    Er öffnete die Augen und lächelte.
    »Freust du dich?«
    »Es fühlt sich fast zu gut an, um wahr zu sein. Ich kann kaum glauben, dass wir uns an dieses ganze Versteckspiel in einer Woche nur noch wie an einen bösen Traum erinnern werden.«
    »Ach, nicht alles war schlecht.« Er grinste und reckte sich genüsslich.
    Ainwa blickte sich um. Es roch nach wildem Majoran und im Gebüsch neben ihnen zwitscherte ein Rotkehlchen. Ihr Blick blieb an Gormans Gesicht haften. Es strahlte eine solche Zuversicht aus, dass man einfach alles für möglich hielt, wenn man ihn ansah. Es ließ sie manchmal sogar vergessen, dass sie eine Ausgestoßene in ihrem Volk war. Sie konnte sehr gut verstehen, warum jeder im Dorf Gorman liebte, warum er bald der Häuptling der Ata sein würde.
    »Nein, nicht alles. Ich glaube nur …« Sie druckste herum. »Ich fürchte, mittlerweile ist es ein offenes Geheimnis, dass wir uns regelmäßig sehen. Das macht mir Sorgen.«
    »Keine Sorgen diesmal«, sagte Gorman. »Eine Woche. Dann trete ich vor den Rat der Alten. Sie werden mir meine Aufgabe stellen – und das war’s. Wenn ich sie erfüllt habe, bin ich der Häuptling der Ata.«
    »Was, wenn du’s nicht schaffst?«
    Gorman lachte laut auf.
    »Danke für dein Vertrauen! Du weißt doch, diese Prüfung ist nur ein Ritual, zur …« Gorman hielt sich die Nase zu, um die nasale Stimme von Trungbert, einem ihr besonders verhassten Mitglied im Rat der Alten, zu imitieren, »Wahrung der Tradition.« Ainwa kicherte.
    »Vater musste ihnen damals das Geweih eines Rothirschs bringen.« Gorman machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich bringe ihnen den Kopf eines Löwen, wenn sie’s verlangen.«
    Sie lächelte und senkte den Blick.
    »Glaub es«, meinte er und ließ sie nicht aus den Augen. »Bald beginnt für uns ein neues Leben.«
    »Bei Ata«, flüsterte sie und rückte etwas näher an ihn heran. »Was ist das auf deinem Bein?«
    Gorman blies überrascht Luft aus. Auf seinem rechten Bein hatten sich dunkelrote Flecken ausgebreitet, die sich bis zu seinen Schuhen hinunterzogen.
    »Lass es mich ansehen«, sagte Ainwa und berührte einen der Flecken vorsichtig mit den Fingerkuppen. Die Haut fühlte sich heiß an. Er verzog leicht das Gesicht.
    »Es brennt«, meinte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Gerade eben war es noch nicht da.«
    Sie runzelte die Stirn. Gorman lag zwischen den tiefblauen Blütenköpfen des Eisenhuts. An manchen Stellen berührten die Blüten seine Haut.
    Sie pflückte einen Eisenhut und fuhr mit den Blüten über Gormans Unterarm.
    Er blickte sie fragend an, doch dann betrachtete er verblüfft, wie sich auf seinem Arm die gleichen roten Flecken ausbreiteten wie auf seinem Bein.
    Gorman sprang sofort auf und setzte sich auf ihre rechte Seite, wo kein Eisenhut wuchs.
    »Es ist die giftigste Pflanze im Seenland«, sagte sie. »Aber normalerweise schadet sie einem nur, wenn man sie isst …« Sie strich sich demonstrativ über ihr nacktes Bein – nichts passierte.
    »Das Gift scheint mir mehr zu schaden«, brummte Gorman und beäugte die Blume misstrauisch.
    »Keine Sorge!« Sie lachte. »Ich werde dir helfen, diese Flecken loszuwerden. Sie passen nicht zu einem Häuptling.«
     
    Ich rannte durch den kniehohen Schnee, Kaukets eingeschlagene Lederunterlage unter den linken Arm geklemmt, meinen Stab in der rechten Hand. Ich trug

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