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Die Wanifen

Die Wanifen

Titel: Die Wanifen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Anour
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blickte zu dem Mädchen hinüber. Mit einem leisen Seufzen entwich der letzte Hauch warmer Luft aus ihren Lungen.
    Ich schloss die Augen und breitete die Arme aus. Jeden Augenblick nun würde sie mein Geschenk erhalten – und ich würde ihren Schmerz spüren.
    »Ein mächtiges Geschenk, meine Kleine – um dich zu beschützen«, murmelte ich.
    Ich wartete. Allmählich legte sich eine dünne Schneeschicht auf den Körper des Mädchens.
    Ich fühlte nichts … Warum fühlte ich nichts? Wie konnte das sein? Warum hatte es nicht funktioniert?
    Ich warf meinen Kopf in den Nacken und stieß ein zorniges Brüllen aus. In der Ferne hörte ich, wie mir das Heulen eines Wolfsrudels antwortete. Ich hatte es genauso getan, wie es sein musste. Wieso …?
    Moment …! Ich hielt inne und sog prüfend die Luft ein.
    »Aha!« Ich knurrte mit geschlossenen Augen. Auf meinen Lippen breitete sich ein Lächeln aus. Wieder ließ ich mich in den Schatten der Rotbuche gleiten.
    Ich wartete, dann erschien wie aus dem Nichts eine hochgewachsene Gestalt auf der Lichtung. Sie trug einen Stab und ging sofort in Verteidigungsposition.
    »Sieh mal an, was mir so willig in die Arme läuft«, flüsterte ich lächelnd.
    Die Gestalt erblickte den Körper des toten Mädchens im Schnee. Sie lief rasch zu ihr hinüber und bückte sich. Die Gestalt schlug die Kapuze zurück und blickte sich misstrauisch um. Ein Mann mit dunklen Locken und ernsten Augen. Ich kannte sein Gesicht. Sein Blick wurde beinahe sanft, als er das Mädchen betrachtete. Überflüssigerweise horchte er auf ihren Herzschlag und schloss ihr mit einem unhörbaren Seufzen die Augen. Vorsichtig, als könnte er sie noch verletzen, wickelte er sie in seinen Fellmantel und hob ihren Körper auf, als wäre sie ein Baby.
    Lautlos, sodass er meine Gegenwart nicht bemerkte, trat ich hinter dem Baum hervor.
    Seine Sinne waren scharf. Es dauerte nicht lange, bis er sich mit erschrockenem Blick zu mir umwandte.
    Ich streckte die Hand aus und deutete grinsend auf ihn.
    In seinem Gesicht las ich, dass er verstand. Ich wurde zu einem Schatten und rauschte durch den nächtlichen Winterwald davon.
     
    Ich erwachte mit einem durchdringenden Schrei. Wo war ich? Wo war ich? Wieso konnte ich nichts sehen? Das letzte Licht einer schwindenden Glut, ein Herdfeuer. Ich war wieder in der Hütte im Wanifenhaus. Was hatte ich gesehen? Das Mädchen. Das Mädchen war … Ich fühlte Übelkeit in mir emporsteigen und erbrach mich auf den Hüttenboden.
    »Ainwa! Ainwa, was ist mit dir? Was hast du gesehen?«
    Ich hörte die Panik in Nephtys’ Stimme und fühlte ihre Hand auf meinem Rücken.
    »Ainwa«, rief sie mit ungewohnt hoher Stimme. »Was ist mit Kauket? Geht es ihm gut?«
    »Er lebt«, murmelte ich mit kraftloser Stimme. Nephtys atmete erleichtert auf.
    »Und das Mädchen?« Heiße Tränen stiegen mir in die Augen. Der einzige Laut, der mir über die Lippen kam, war ein heiseres Schluchzen.
    »O Ainwa.« Auch in ihre Stimme mischte sich ein leises Schluchzen.
    Sie wollte mich umarmen, doch ich wischte ihren Arm mit einer kraftlosen Bewegung beiseite.
    »Nicht«, flüsterte ich, ohne sie anzusehen. »Ich verdien dein Mitleid nicht.«
    »Ainwa …«, flüsterte sie.
    »Er wollte nichts von ihr, nichts«, hauchte ich mit zitternder Stimme. »Er hat sie gequält und getötet – für mich! Er dachte, er würde mir dadurch ihren Seelengeist schenken.«
    Ich wandte mich um und blickte Nephtys ins Gesicht. Als ich den mitfühlenden Blick ihrer warmen Augen erkannte, fiel auch mein letzter Widerstand und die Tränen strömten ungehemmt über mein Gesicht.
    »Ich hab sie getötet!«
    Wieso war ihr Blick noch immer so mitfühlend? Sie sollte mich verachten. Sie sollte mich dafür verachten, dass ich mich geweigert hatte, Kauket das Gift zu geben, das Gormans Herz zum Stillstand brachte.
    In diesem Augenblick begriff ich zum ersten Mal in meinem Leben, was es bedeutete, eine Mutter zu haben. Ich begriff, dass sie mich lieben würde, egal, was ich tat. Eine Liebe, die an keine Bedingung geknüpft war.
    Ich stand auf und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Das graue Licht der Morgendämmerung fiel zum Hütteneingang herein.
    »Ich werde es wieder gutmachen. Ich werde dich und Kauket nicht noch einmal enttäuschen.«
    »Was hast du vor?«, fragte Nephtys und zog sich an einem Holzbalken in die Höhe.
    Ich antwortete nicht. Mein Blick fiel auf die Lederunterlage, auf der die vertrockneten Giftpflanzen

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