Die Wanifen
länger beschäftigt war.
Irgendwann hatten wir auch die letzten Wasserminzen zu winzigen Blättchen zerstampft und füllten sie in kleine Tonbehälter ab, die Nephtys bereitgestellt hatte. Sie gähnte.
Es war spät, in wenigen Stunden würde es Mitternacht sein. Sie erhob sich und trottete zu ihrem Lager.
»Ich habe Angst einzuschlafen«, wisperte ich.
Nephtys wandte sich zu mir um und blickte mich aus großen Augen an. Die harte Arbeit des Tages hatte auch an ihr Spuren hinterlassen. Ihr sonst so schönes Haar klebte ihr im Gesicht und unter ihren sanften Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet. Wir wussten beide, dass heute die Nacht des halben Mondes war, die Nacht, in der Gorman das rothaarige Mädchen zu sich rufen würde, die Nacht, in der sich entschied, wer weiterlebte und wer starb.
»Ich bitte dich, es trotzdem zu versuchen«, flüsterte Nephtys mit einem vorsichtigen Lächeln. »Selbst wenn du etwas Schlimmes siehst. Es ist noch immer besser, als nie zu erfahren, was passiert ist.«
Sie ließ sich auf ihren Fellen nieder. Ich wusste, dass sie genauso wenig schlief wie ich.
Ich legte mich auf mein Lager und zog das Bärenfell bis zum Kinn hoch. Ich starrte die Hüttendecke an. Über dem Rauchfang erkannte ich den dunkelgrauen Nachthimmel, schwer von Schneewolken. Es wunderte mich, dass er nicht auf die Erde stürzte. Nach einer Weile schloss ich die Lider und versuchte, mich zu entspannen. Mit aller Macht rief ich mir einen warmen Sommerabend in Erinnerung, den ich mit Gorman gemeinsam am Ufer des kleinen Sees verbracht hatte. Bevor ich in die Dunkelheit des Schlafes sank, fühlte ich noch ein leichtes Kribbeln auf meinem linken Arm …
Dichter Schneefall verdeckte mir die Sicht. Ich spürte, wie die Flocken auf meine Haut trafen und schmolzen. Ich brauchte meinen dunklen Bärenfellumhang nicht, um mich warmzuhalten. Nur die Schwachen mussten sich um solche Kleinigkeiten kümmern.
Ich stand im Schatten der alten Rotbuche, die mit ihrer mächtigen Krone das Zentrum des Kraftplatzes bildete. Ein dunkles Lächeln lag auf meinen Lippen. Endlich war es so weit! Endlich würde ich mein Versprechen erfüllen.
Obwohl ich ihre Nähe bereits riechen konnte, war es schwierig, ruhig zu bleiben, und nicht wie ein Vulkan über sie hereinzubrechen und sie zu verschlingen.
Geduld … Es musste hier passieren.
Die Äste der Fichten, die die Lichtung begrenzten, waren so schwer mit Schnee beladen, dass ich ihr leises Ächzen wahrnehmen konnte – unhörbar für normale Menschenohren. In der anderen Welt blieb alles still – noch. Sie war die Wanife der Mondleute, sie würde nicht allein kommen.
Ich beobachtete, wie eine schlanke Gestalt zwischen den Baumstämmen hervortrat. Sie war in eine dicke Pelzjacke gehüllt, die sie dicht um den Körper geschlungen hatte. Was für ein verführerisches Spielzeug. Ich ließ mich tiefer in den Schatten des Baumes gleiten.
Genau, wie ich es erwartet hatte. Ich konnte es jetzt deutlich wahrnehmen, ganz in ihrer Nähe. Seine Verzweiflung bereitete mir Vergnügen. Es war machtlos – so lange, bis sie es rief. Wie sehr ich diesen Augenblick herbeigesehnt hatte. O ja …
Das Mädchen schlug ihre Kapuze zurück. Ihr welliges Haar wogte über die Schultern und erste Schneeflocken verfingen sich darin. Ihr blasses Gesicht wirkte ängstlich und ich nahm ein leichtes Zittern ihrer Gestalt wahr. Langsam, ganz langsam. Lass sie zu dir kommen. Lass sie in deine Arme sinken.
»Erlkönig?«, murmelte sie vorsichtig.
Ich blieb, wo ich war. Mein Lächeln wurde noch um eine Spur breiter. Wie die Motte zum Feuer.
»Erlkönig?«, wiederholte sie unsicher.
Mit gemessenem Schritt trat ich hinter dem Baum hervor, streng darauf bedacht, mich nicht zu schnell zu bewegen.
»Hier bin ich, mein Sternenmädchen.«
Ich wusste, wie meine Stimme auf Menschen wirkte. Sie hüllte sie in eine dunkle, warme Decke, wischte ihren Widerstand fort.
Das Mädchen wandte sich erschrocken um. Ihr Blick saugte sich an meiner imposanten Erscheinung fest. Angst in ihren Augen … dann der verklärte Blick von Verliebtheit.
Sah sie denn nicht meine Kelpiaugen? Begriff sie nicht, was für einem Dämon sie gegenüberstand?
»Komm zu mir, mein Kind!« Ich breitete die Arme aus.
Sie kam mit langsamen Schritten auf mich zu. Ihre Augen wichen nicht einen Moment von den meinen. Gut so … verlier dich in ihnen.
Sie stand jetzt direkt vor mir. Was für ein süßer Duft, süßer noch als der eines
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