Die Wanifen
Er schien mir verändert, seine Miene wirkte viel entspannter, als hätte jemand eine Last von seinen Schultern genommen, die er schon sehr lange mit sich herumgetragen hatte.
Ich würde in die Menschenwelt wandeln und ins Wanifenhaus zurückkehren. Ich würde Kauket und Nephtys bitten, Rainelf bei uns aufzunehmen. Ich war sicher, sie würden sich freuen, besonders Nephtys. Rainelf würde bei uns leben … Er würde sein Lachen wiederfinden, so wie ich es wiedergefunden hatte. Er würde leben wie ein normaler Junge und mit der Zeit würde er die Dunkelheit vergessen, in der er so lange gefangen gewesen war.
Wir traten hinter dem Wasserfall hervor und kletterten zum Kraftplatz hinunter, das heißt, ich kletterte, Rainelf sprang so leichtfüßig über die Felswand hinunter, als wäre der Abgrund nur knie- und nicht zehn Mannslängen tief.
»Ich werde zu Kauket und Nephtys gehen und ihnen von dir erzählen«, sagte ich, als ich endlich unten angekommen war. »Wirst du hier sein, wenn ich wiederkomme, oder verschwindest du wieder?«
Rainelf lächelte. »Wir werden sehen.«
Wir gingen beide zu einem Wechselstein hinüber und schlugen einmal mit unseren Stäben darauf. Jetzt, da ich mehr darauf achtete, fühlte ich es deutlicher, die schneidende Kälte, Hunger, Müdigkeit … Auf diese Eindrücke hätte ich gut und gern noch eine Weile verzichten können.
Rainelf atmete tief durch. Ich beobachtete die Wölkchen, die seinen Nasenlöchern entwichen. Seltsam, mir war nie zuvor aufgefallen, dass sein Atem Wölkchen bildete. Es war das erste Zeichen von Wärme, das ich an ihm bemerkte. Er wandte sich mir zu.
»Ainwa, ich wollte dir noch sagen, dass …«
Er erstarrte mitten im Satz. Die Wärme, die eben noch seine Miene erfüllt hatte, wich, als würde sie von einer kühlen Brise fortgeweht.
»Rainelf?«, fragte ich besorgt und berührte ihn an der Schulter. Er hob den Arm und zeigte auf etwas hinter mir.
Langsam wandte ich mich um.
Auf der Felswand leuchteten zwei riesige, rote Zeichen. Sie hoben sich deutlich vom hellen Kalkstein ab. Das rechte kannte ich, es war der Doppelgänger des Zeichens auf meinem linken Arm – ein Elchenband. Das linke Zeichen kam mir auch vage bekannt vor, aber ich wusste nicht mehr, woher. Drei senkrecht angeordnete Kreise, die durch eine gerade Linie verbunden waren. Ich stolperte einen Schritt zurück und wandte mich zu Rainelf um.
»War das schon hier, als wir die Höhle betreten haben?«
Rainelf schüttelte unmerklich den Kopf. Er wirkte auf mich wie eine Statue aus Eis.
»Er war hier. Er hat uns gefunden.«
Ich umfasste meinen Stab fester und blickte mich panisch um. So viele Schatten im Erlendickicht. Was, wenn Gorman noch immer hier war?
»Ich kann hier nicht bleiben«, sagte Rainelf. »Er darf mich nicht sehen. Ich kann nicht wieder zurück!«
»Beruhig dich«, sagte ich, lauter als ich eigentlich beabsichtigt hatte.
Rainelf legte den Kopf auf die Seite, als würde er lauschen.
»Hörst du das?«, flüsterte er.
Ich konzentrierte mich und versuchte, das Rauschen des Wasserfalls auszublenden. Bildete ich es mir nur ein, oder …? Nein, ich war ganz sicher. Ich hörte ein Schluchzen.
Vorsichtig schlich ich durch den Schnee auf das Erlendickicht zu, in dem ich das Geräusch zu hören glaubte. Ich nahm meinen Bogen zur Hand und spannte einen der vergifteten Pfeile ein.
»Wer ist da?«
»Ainwa … Ainwa, bist du das?«, wisperte eine helle Stimme.
Ich ließ den Bogen sinken.
»Nephtys!«
Sie kam so schnell aus dem Schatten herausgestürmt, dass ich erschrocken zurückwich. Mit einem erleichterten Schluchzen fiel sie mir um den Hals und drückte mich so fest an sich, dass mir die Luft wegblieb. Ihre Haare waren verfilzt und rochen nach Schnee.
»Du lebst«, hauchte sie. »Du bist am Leben.«
»Es ist in Ordnung«, sagte ich und schob sie vorsichtig von mir. »Alles ist gut.«
Ihr stiegen erneut Tränen in die Augen. »Nein, Ainwa. Nichts ist gut! Wo bist du gewesen?«
Ich erzählte ihr rasch, was sich zugetragen hatte. Der Angriff der Tráuna, der Aufstand der Ata und wie Rainelf mich vor den beiden Wanifen gerettet hatte.
»O nein«, flüsterte Nephtys und ließ sich in den Schnee sinken. »Das bedeutet … Das bedeutet …« Sie blickte auf. Sämtliche Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen. »Kauket läuft in eine Falle.«
Meine Eingeweide krampften sich zusammen.
»Was soll das heißen? Was ist passiert?«, fragte ich mit belegter Stimme.
»Deine
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