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Die Wanifen

Die Wanifen

Titel: Die Wanifen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Anour
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blassen Leichnam auf das Gräberfeld getragen hatten und wie Ralfing, der verweinte Riese, seine kleine Tochter in Händen gehalten hatte. Ich fand damals nichts Seltsames an dir. Du warst nur ein Baby, das seine Mutter verloren hatte …
    An jenem Tag war ich lange unterwegs, ohne irgendeinen Hinweis auf den mächtigen Wanifenmeister zu finden. Ataheim lag auf meinem Weg und ich kam um …, um ehrlich zu sein, wollte ich sehen, was aus dir geworden war. Fünf Jahre waren seit dem Tod deiner Mutter vergangen. Es war Winter. Ich fand dich auf einem der Stege sitzend und in Decken gehüllt. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass auch Ralfing gestorben war.
    Als ich dich da so sitzen sah, fühlte ich zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder einen Hauch von Mitleid. Du sahst so einsam aus … genauso einsam, wie ich mich fühlte. Als ich dich aus dem Dickicht heraus beobachtete, wurde ich plötzlich angegriffen. Die Erde unter meinen Füßen zitterte und die Bäume neigten sich zum Boden. Es traf mich völlig unvorbereitet, schließlich befand ich mich in der Menschenwelt und es war kein anderer Wanife in der Nähe. Ich hatte nie etwas Vergleichbares erlebt. Der Geist, der mich angriff, war so mächtig, dass ich nur um Haaresbreite mit dem Leben davonkam. Für lange Zeit wagte ich nicht, nach Ataheim zurückzukehren, aber ich musste um jeden Preis herausfinden, wen dieser Geist beschützte. Ich war jetzt überzeugt davon, der mächtige Wanife, nach dem der Kelpi suchte, musste sich in meiner alten Heimat verstecken. Es war schwierig … Ich konnte mich Ataheim nicht in der Geisterwelt nähern, um zu sehen, um welchen Geist es sich handelte. Sich einem Geist zu nähern, der mich bereits in der Menschenwelt beinahe getötet hätte …« Rainelf schnaubte kopfschüttelnd. »Es wäre mein letzter Ausflug geworden. Nie hätte ich geglaubt, dass du es warst, Ainwa, das schwächliche, kleine Waisenmädchen mit dem Gesicht seiner toten Mutter. Außerdem behinderte mich der Kelpi bei meinen Nachforschungen. Zornig über mein Versagen, den mächtigen Wanifen aufzuspüren, sperrte er mich immer wieder monatelang in seine Höhle. Aber die Zeiten waren vorbei, in denen er mich damit an den Rand des Wahnsinns treiben konnte. Jetzt hatte ich ein Ziel. Ich wusste immerhin, wo der Wanife lebte, der mir vielleicht zur Flucht verhelfen würde und schließlich sollte der Tag kommen, an dem sich sein Geheimnis lüftete …
    Das Hermelinenwór und ich liefen gerade über die Wiesen am Nordufer des großen Sees. Wir wollten zu einem Aussichtspunkt, von dem aus wir vielleicht von Weitem einen Blick auf den Geist des mächtigen Wanifen werfen konnten, ohne uns dafür in Gefahr zu begeben.
    Wir bewegten uns so schnell, dass wir eine große Wisentherde in Aufruhr versetzten. Ich fürchtete, ich hätte damit den mächtigen Geist des Wanifen auf uns aufmerksam gemacht, und wandelte so schnell wie möglich in die Menschenwelt. Als ich zurückschlich, sah ich dich vor der Wisentherde davonrennen, die ich aufgeschreckt hatte. Ich dachte schon, ich müsste nach deinen Eltern auch dich sterben sehen, aber dann …«
    »… blieb die Herde stehen«, flüsterte ich.
    »Ja«, erwiderte Rainelf und spielte gedankenversunken mit den Lärchentrieben an der Spitze seines Stabs. »Die Herde blieb stehen und ich fühlte die Gegenwart des Geists, der mich beinahe getötet hatte. Zuerst konnte ich es nicht glauben. Ich hatte so viele junge Wanifen beobachtet, bevor diese erwacht waren, aber kein Einziger wäre in der Lage gewesen, so etwas zu tun. Ich war am Boden zerstört. Schließlich hatte ich gehofft, einen mächtigen Wanifen vorzufinden, einen Meister – aber was ich fand, warst du, ein verängstigtes Mädchen, das sich seiner Macht überhaupt nicht bewusst war. Ich war sicher, du könntest dem Kelpi nie gefährlich werden, also benutzte ich ein Schlupfloch. Er hatte mich diesmal nicht ausgesandt, um einen zukünftigen Wanifen zu finden, sondern einen Meister. Sein Befehl schloss dich nicht mit ein, also konnte ich darüber schweigen, was ich gesehen hatte … Ich wusste, es war geborgte Zeit, aber ich hoffte, du würdest in der Zwischenzeit lernen, die Macht deines Geistes besser zu kontrollieren, bevor du dem Kelpi gegenübertreten würdest. Es war närrisch von mir zu glauben, das seltsame Verhalten deines Seelengeists würde dem Kelpi lange verborgen bleiben. Er spürte, dass etwas Ungewöhnliches im Dorf der ihm so verhassten Ata vorging.

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