Die Wanifen
noch weglaufen? Was, wenn Gorman dich erwischt und wieder in diese Höhle sperrt? Hast du keine Angst mehr?«
Rainelf stieß ein leises Lachen aus. »Ich habe sogar Todesangst, Ainwa«, sagte er mit einem bekräftigenden Nicken. »Aber du hast mir gesagt, ich könnte neu anfangen. Wenn das wahr ist, wenn ich endlich aufhören will, wegzulaufen, dann muss ich mich meiner Angst stellen.«
Ich lächelte. Rainelf war so viel erfahrener als ich. Gemeinsam würden wir Kauket vielleicht zurückholen können.
»Was ist mit mir?«, sagte Nephtys. Eine deutliche Veränderung war mit ihr vorgegangen. Sie hatte sich aufgerichtet und ihren Speer aufgehoben. Mit entschlossenen Schritten marschierte sie auf uns zu.
»Ich bleibe nicht zurück, wenn alle, die ich liebe, ihr Leben riskieren. Und diesmal lasse ich mich nicht davon abhalten!«
Für einen Moment starrte ich sie unschlüssig an.
»Nein, das würde ich auch nicht verlangen. Du kannst zwar nicht mit uns in die Geisterwelt wandeln, aber es gibt etwas anderes, das du tun kannst.
Der Dreibach liegt genau auf der Route, die die Tráunakrieger nehmen. Es wird dort nur so von ihnen wimmeln. Wenn sie bemerken, was dort vor sich geht … Wir werden einfach nicht die Zeit haben, uns auch noch mit ihnen zu beschäftigen. Du musst den Dreibach bewachen und verhindern, dass sie uns entdecken.«
»Wie komme ich dorthin?«, fragte sie entschlossen.
Ich erklärte ihr rasch den Weg entlang des Seeufers, den Berghang hinauf bis zum Erlensumpf.
Sie sah zu Rainelf. »Ist das der richtige Weg?«
Rainelf nickte. »Wie lange ist er schon fort?«
»Etwa eine Stunde«, erwiderte Nephtys.
»Wir dürfen keine Zeit verlieren. Wenn ich mich beeile, kann ich ihn vielleicht noch einholen.«
Nephtys trat an mich heran und umarmte mich fest.
»Bring ihn zurück, wenn du kannst«, flüsterte sie mir ins Ohr, »aber wenn es zu gefährlich wird, lauf einfach weg. Ich weiß, Kauket würde es so wollen.«
Ich lächelte wehmütig. Die Zeit des Weglaufens war vorbei, für jeden von uns. Ich glaubte, dass auch Nephtys es wusste, aber ihre Liebe zu mir ließ sie es nicht sehen.
Nephtys löste sich von mir und umarmte Rainelf mit beinahe derselben Heftigkeit wie mich.
Rainelf wurde stocksteif. Seine Augen waren so weit aufgerissen, als würden sie gleich herausspringen. Ich musste grinsen. Vierzig Jahre ohne Umarmung waren eine lange Zeit.
»Ich weiß nicht, wer du bist«, flüsterte Nephtys. »Aber du musst ein großes Herz besitzen. Ich werde nie vergessen, was du für meinen Bruder tust.«
Sie löste sich von ihm und er entspannte sich sichtlich. Nephtys nickte uns beiden noch einmal zu, dann lief sie los, über die Felsen, in die Weytaklamm hinein.
Rainelf und ich zögerten nicht, wir liefen zum nächsten Wechselstein und wandelten mit zwei lauten Stockschlägen in die Geisterwelt.
»Percht«, rief ich.
Oben auf der Klippe erklang ein lautes Brüllen, dann sprang der Percht mit wehendem Pelz zu mir herunter. Von einem Augenblick zum anderen, ohne dass ich sagen konnte, woher es gekommen war, stand ein riesiges, schneeweißes Hermelin neben Rainelf und musterte mich aus schwarz glänzenden Augen. Unwillkürlich wich ich hinter die Schulter des Perchts zurück, der Rainelf und dem Hermelinenwór mit einem dumpfen Grollen entgegenblickte.
»Du musst dich nicht vor ihr fürchten«, meinte Rainelf grinsend und strich über das seidige Fell des Wiesels. »Sie kann dich gut leiden.«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte ich misstrauisch. »Wieso denkst du eigentlich, du könntest Kauket einholen?«
Rainelf grinste – dann war er plötzlich verschwunden.
Jemand tippte mir auf die Schulter. Ich fuhr mit einem überraschten Keuchen herum und erblickte Rainelf, der mich mit einem selbstzufriedenen Gesichtsausdruck musterte.
»Kauket hatte recht. Du bewegst dich wie sie … Du bist so schnell wie ein Geist.«
»Das war gar nichts«, meinte Rainelf. »Heute würde ich mir eher wünschen, ich wäre ein ebenso talentierter Geisterringer.«
Ich verstand. Vierzig Jahre Übung im Wandeln, aber vermutlich kaum Gelegenheit, seine Fähigkeiten im Geisterringen zu entwickeln. Er war darin möglicherweise nicht viel besser als ich.
»Ich kann nicht auf dich warten, Ainwa«, sagte Rainelf mit ernster Miene. »Wenn wir deinen Freund retten wollen, muss ich mich so schnell bewegen, wie ich kann. Du und dein Percht, ihr scheint euch gut zu verstehen; lass dir von ihm helfen, dann kommst du etwas
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