Die Wanifen
bedacht, mich nicht zu provozieren, obwohl ich meinen Bogen gerade achtlos fallen gelassen hatte.
»Wer bist du?«
Er lächelte vorsichtig. Das Lächeln schien seiner Miene auf seltsame Weise Leben einzuhauchen.
»Nenn mich Rainelf.«
»Du bis gekleidet wie einer von uns. Wie ein Ata.«
»Ich gehöre zu den Abira.«
»Abira …«, flüsterte ich.
Die Abira lebten an einem See südlich des Ata. Sie waren eines der wenigen Völker, mit denen wir regelmäßig Kontakt pflegten. Erst vor ein paar Monaten hatten ein paar Abira Jäger mein Dorf besucht, um mit den Ata Waren zu tauschen.
Rainelf sah mich auf einmal forschend an. »Bei den Ata gab es schon lange, sehr lange, keinen Wanifen mehr. Wie hast du überlebt?«
»Woher weißt du das?«, murmelte ich heiser.
»Es ist kein Geheimnis«, erwiderte er. »Hör mir zu … Wie war dein Name noch gleich?«
»Ainwa.«
»Ainwa … Ich werde dir nichts tun. Du bist verletzt und ich würde gern helfen, aber dazu muss ich zu dir auf den Kraftplatz kommen.«
»Den was?«
»Du hast es nicht einmal bemerkt, stimmt’s?« Er seufzte. »Er hat das ausgenutzt! Sieh dich um, dann wirst du verstehen, was ich meine.«
Ich blickte mich um. Jetzt, da Rainelf mich darauf hingewiesen hatte, wunderte es mich wirklich, dass mir auf dieser Lichtung nichts merkwürdig vorgekommen war. Sie war ungewöhnlich groß, kreisrund und zwei nahezu identische, runde Steine lagen einander exakt gegenüber.
»Was ist das für ein Ort?«
»Ein Ort für Menschen wie … uns.«
Bevor ich meine Frage stellen konnte, hob Rainelf seine rechte Hand. Ich erkannte ein filigranes Zeichen unter seinem Handgelenk.
»Du bist … ein Wanife!«
Rainelf nickte.
»Komm«, murmelte ich.
Rainelf löste sich aus dem Schatten und trat auf die Lichtung heraus.
Ich konnte nichts Bedrohliches an seiner Gestalt entdecken. Die Art, wie er sich bewegte … ich konnte mir nicht helfen, aber es sah so aus, als würde er sich bei jedem einzelnen Schritt zur Langsamkeit zwingen, vielleicht um mich nicht zu beunruhigen. Erst jetzt fiel mir auf, dass auch er einen Stab trug.
Genau wie der Fremde. Zartgrüne Lärchentriebe wuchsen aus seiner Spitze.
»Ich möchte wissen, wer er war«, flüsterte Rainelf und drehte die Leiche des Fremden auf den Rücken.
Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als er seine Fingerkuppen über die Stirn des Kerls gleiten ließ.
»Er kommt nicht aus der Gegend. Ein Streuner. Ich frage mich, was ihn hergeführt hat. Erzähl mir von eurem Kampf.«
Ich erzählte ihm so genau wie möglich, was passiert war, obwohl ich Angst hatte, dass er mir nicht glauben würde. Doch er nickte nur und schloss an manchen Stellen die Lider.
»Du hast Glück gehabt, unglaubliches Glück. Eigentlich müsstest du tot sein.«
»Seit letzter Nacht«, murmelte ich. »Hätte ich schon mehr als einmal den Tod finden müssen.«
»Zeig mir deinen Arm«, flüsterte er.
»Welchen?«
»Den rechten.«
Ich streckte ihm verwirrt den Arm hin und seine Finger schlossen sich vorsichtig um mein Handgelenk. Die Berührung seiner Haut fühlte sich angenehm an wie kühles Quellwasser im Sommer.
Er musterte das Zeichen, das als Erstes unter meinem Handgelenk aufgetaucht war. Mit den Fingerspitzen fuhr er die Kontur des Zeichens nach. Ich errötete unwillkürlich und wollte ihm die Hand schon entziehen, als er sie plötzlich mit einem erschrockenen Keuchen losließ, als hätte er Angst sich zu verbrennen.
»Ich habe mich nicht geirrt«, flüsterte er.
»Was bedeuten diese Zeichen?«
»Dieses da bedeutet Gefahr«, zischte er.
»Bitte, erzähl mir mehr über die Zeichen, erzähl mir alles, was du über Menschen wie uns weißt. Ich muss so schnell wie möglich lernen, sonst ist mein Bruder verloren!«
»Ist er krank?«, fragte Rainelf.
»Nein … nein, es ist … etwas anderes.«
»Dein Bein ist verletzt, lass es mich ansehen.«
»Können wir nicht woanders hingehen?«
»Wir bleiben«, erklärte Rainelf. »Hier fällt es mir leichter, dir zu helfen. Setz dich.«
Ich ließ mich resigniert auf den Waldboden sinken.
Er krempelte meine Hose auf und begutachtete das Bein.
»Ich hab ihn getötet«, flüsterte ich mit einem Seitenblick auf den Wanifen.
»Er war gefährlich«, sagte er, während er mein Bein abtastete.
Wieder spürte ich die angenehme Wirkung seiner Berührung und drängte sie zurück. Was wusste ich denn schon über ihn? Er konnte noch immer versuchen, mich zu töten. »Wahrscheinlich hätte er
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