Die Wanifen
Hand nach mir aus. Seine Lippen formten Worte, die ich nicht hörte.
Blut rann über seinen nackten Oberkörper. Er brach in die Knie, kippte vornüber und blieb regungslos auf dem Waldboden liegen.
Ich wandte mich dem Geist zu, bereit, mich seiner grausamen Rache zu stellen. Bevor es aber so weit war, würde ich ihm zumindest ein paar Büschel seines räudigen Fells ausreißen. Der Percht taxierte mich aus aufgerissenen Augen, dann brach auch er in die Knie. Er warf den Kopf in den Nacken und stieß ein markerschütterndes Heulen aus. Hätte ich es nicht besser gewusst, ich hätte gemeint, er spürte den Pfeil, der eben den Wanifen getroffen hatte. Die Kreatur schlug sich kreischend auf die Brust und raufte sich das Fell. Von einem Moment auf den anderen verschwand sie.
Ich wagte kaum zu atmen. Das Zwitschern der Vögel drang wieder an meine Ohren.
Hatten sie die Lieder unterbrochen oder hatte ich sie während des Kampfs einfach nicht wahrgenommen? War das alles wirklich passiert?
Obwohl der Geist verschwunden war, lag der reglose Wanife noch immer in der Mitte der Lichtung.
Ich fühlte mich wie gelähmt. Mein Körper zitterte.
Verdammt, wieso wollte mich plötzlich alle Welt umbringen? Wieso sah ich mich plötzlich Aug in Aug Kreaturen gegenüber, deren Existenz ich noch vor einem Tag belächelt hatte? Ich streckte vorsichtig die Hand aus. Was, wenn der Zauber des Wanifen nicht mit ihm gestorben war und ich für immer auf dieser Lichtung gefangen war? Meine Hände durchpflügten die Luft, ohne dabei auf Widerstand zu stoßen.
Ich atmete auf, hob den Stock auf und humpelte auf den Wanifen zu.
Der Pfeil hatte seinen Brustkorb durchschlagen und die Feuersteinspitze ragte einen Fingerbreit aus seinem Rücken hervor.
Ich vergewisserte mich, dass er nicht mehr atmete und stupste ihn vorsichtig mit dem Stock an.
»Was ist hier passiert?«
Ich zuckte zusammen. Langsam hob ich den Blick … und traute meinen Augen nicht.
Eine blasse Gestalt war zwischen den Bäumen aufgetaucht.
Kein Zögern diesmal!
»Ich töte dich, Schneegeist«, schrie ich und spannte den Bogen. »Komm einen Schritt näher und ich töte dich!«
»Ich bin kein Schneegeist«, erwiderte die Gestalt ruhig. »Noch irgendein anderer Geist.«
Ich kniff die Augen zusammen. Tatsächlich, ein Junge, kein Geist. Anders als der, den ich gerade getötet hatte, hatte er nichts Wildes oder Tierisches an sich.
Aber auch nach dem zweiten Blick blieb der geisterhafte Eindruck erhalten. Ich konnte nicht genau sagen, woran es lag, vielleicht an seiner schneeweißen Haut, die nicht zum warmen Ton seiner rotbraunen Locken passen wollte. Nur seine Kleidung, das ärmellose Hemd und die Hose aus Wisentleder, hatten etwas Vertrautes. Sah man ihn flüchtig an, konnte er als Ata durchgehen.
Ich würde kein Risiko mehr eingehen. Hatte nicht eben gerade ein vermeintlich freundlicher Fremder versucht, mich umzubringen?
»Sieh ihn dir an«, sagte er und deutete auf die Leiche des Wanifen. »Verschwinde oder dir blüht dasselbe Schicksal.«
Der junge Mann legte den Kopf schräg.
»Du hast ihn mit einem Pfeil getötet?«
Die Tatsache schien ihn sehr zu verwundern.
»Hast du ein Problem damit?«
»Nein. Es ist nur … ungewöhnlich. Ich wette, das hat er nicht kommen sehen. Hast du es schon hinter dir?«
»Wovon sprichst du?«
Der Junge musterte mich aus großen Augen. Sie waren grau , wie meine, vielleicht noch ein bisschen heller wie der Reif auf den Bäumen.
»Du weißt nicht, wovon ich rede? Na, dann mach dich bereit. Der Schmerz bringt einen um den Verstand, wenn man nicht darauf vorbereitet ist.«
Ich wollte etwas erwidern, aber in diesem Augenblick ging mein Arm in Flammen auf – oder es fühlte sich zumindest so an. Ich brach mit einem überraschten Schrei in die Knie und umschloss meinen rechten Unterarm, der so wehtat, dass ich alles um mich herum vergaß. Von weit her tönte ein dröhnender Schrei durch den Urwald.
Es hörte so plötzlich auf, wie es gekommen war. Ich kauerte auf dem Waldboden.
»Hast du das gehört?«, fragte der Junge beunruhigt.
Vorsichtig ließ ich meinen Unterarm los.
Unter dem schwarzen Zeichen, das ich heute Morgen entdeckt hatte, war ein zweites aufgetaucht.
Ich keuchte auf.
»Sein … sein Zeichen!« Ich deutete auf den toten Fremden. »Sein Zeichen ist auf meinem Arm erschienen.«
»Was hast du denn erwartet?«
Ich starrte den Jungen an. Er hatte die Lichtung noch immer nicht betreten und schien sehr darauf
Weitere Kostenlose Bücher