Die Wanifen
Ainwa!«
Sie drehte sich um. Der Boden unter ihren Handflächen zitterte leicht.
Es war nicht das Wisentkalb, auf das sie so lange gewartet hatte. Es war auch nicht die Kuh …
Eine Herde aus gewaltigen, erdbraunen Leibern donnerte geradewegs auf das Haseldickicht zu.
Was immer Galsinger und die anderen Jäger geplant hatten, es war auf furchtbare Weise schiefgegangen, denn nun rasten Hunderte panische Wisente auf sie zu, die alles niedermähen würden, was ihnen im Weg war.
Ainwa kroch unter dem Haseldickicht hervor und sprintete los.
Hinter ihr preschten die Wisente über die Sträucher hinweg, unter denen sie gerade noch gelegen hatte.
Sie würden sie einfach zertrampeln. Sie waren viel schneller, als sie jemals laufen konnte, dennoch rannte sie, so schnell sie ihre Beine trugen. Wenn sie nur irgendwie das Wasser erreichen könnte … Sie war eine gute Schwimmerin.
Das Donnern der Hufe wurde immer lauter. Sie roch bereits den intensiven Geruch ihrer dampfenden Leiber. Plötzlich war sie nicht mehr allein, obwohl sie niemanden neben sich sehen konnte. Etwas war da! Vielleicht dieselbe Erscheinung, die sie gerade eben heimgesucht hatte, auch wenn der ohrenbetäubende Lärm nicht zuließ, dass sie die seltsamen Geräusche hören konnte, die sie so geängstigt hatten. Etwas Warmes berührte ihre Wange …
Ainwa rannte noch immer, aber die Welt um sie herum schien fortzugleiten. Sie spürte die Tiere hinter sich, ihre Angst und ihre Panik. Sie wusste auf einmal, dass sie die Herde erreichen konnte, sie beruhigen, wenn sie es nur wagte …
Ainwa blieb abrupt stehen und wandte sich den heranpreschenden Wisenten zu.
Ein Teil von ihr wusste, dass es verrückt war, dass sie gerade ihre winzige Chance aufs Überleben verspielte. Konnten die Tiere ihren Geist spüren, so wie sie ihren? Ainwa versuchte, ganz ruhig zu werden, obwohl ihr Körper vor Furcht zitterte und sie am liebsten davongelaufen wäre.
Nur noch wenige Augenblicke …
»Ruhig«, flüsterte Ainwa. Sie spürte einen seltsamen Luftzug auf ihrem Gesicht. »Ruhig.« Eine Wand aus Hörnern, Fell und rollenden Augen donnerte auf sie zu.
Sie schloss die Augen.
»Ruhig«, flüsterte sie.
Auf einmal … wurde es ruhig.
Ainwa öffnete vorsichtig die Augen und stieß ein überraschtes Keuchen aus.
Die Herde hatte angehalten. Unzählige Wisente standen keine zehn Schritte von ihr entfernt, Hufe scharrend, schnaubend, unsicher.
Ihr Blick fiel auf den Wisent, der ihr am nächsten stand. Es musste der Leitbulle der Herde sein, obwohl er erst ein paar Sommer alt war. Er war riesig … Die letzten Reste des Winterfells hingen in Fetzen von seinem muskulösen Körper hinab. Er warf sein mächtiges Haupt hin und her und stieß ein nervöses Schnauben aus. Der Großteil seines rechten Ohrs fehlte … Vermutlich hatte er es verloren, als ihm ein Wolf auf den Rücken gesprungen war, um ihn zu Fall zu bringen. Irgendwie musste er das Raubtier abgeschüttelt haben. Die anderen Wisente würden ihm folgen, ganz gleich, was er tat … und im Augenblick war er unschlüssig.
Ainwa hatte diese Tiere noch nie aus so geringer Entfernung gesehen, zumindest nicht lebendig.
Langsam, ganz langsam, bewegte sie sich auf den Bullen zu. Der Wisent hob den gewaltigen Kopf und rollte mit den Augen.
Sie war wesentlich zierlicher als die anderen Jäger der Ata. Ein mächtiges Tier wie dieses konnte ein Mädchen wie sie leicht töten, aber Ainwa hatte keine Angst mehr. Sie streckte die Hand aus. Vorsichtig ertastete sie das gekräuselte Fell auf der Stirn des Wisents. Es fühlte sich weich und staubig an.
Der Bulle schnaubte, tolerierte aber ihre Berührung. Ainwa begann vorsichtig, sein Fell zu kraulen. Das Tier hob den Kopf, sodass ihre Finger auf die feuchten Nüstern glitten. Eine bläuliche Zunge schleckte über ihre Haut.
Ainwa lächelte.
»Ainwa! Lauf!«
Sie fuhr herum. Gorman, Weyref und Andra kamen auf sie zugestürmt. Mit Entsetzen erkannte sie, wie Weyref ausholte und seinen Speer in ihre Richtung schleuderte.
Obwohl der Wisent die Gefahr nicht wahrnahm, die von den drei Jägern ausging, konnte er Ainwas Angst spüren.
Er warf den Kopf zurück und sprang zur Seite.
Weyrefs Speer verfehlte sein Ziel und streifte die Flanke des Bullen.
Das Tier brüllte erschrocken auf. Seine ausschlagenden Hufe trafen Ainwa und schleuderten sie zu Boden.
Um sie herum brach die Hölle los. Für einen Moment sah Ainwa nur stampfende Hufe und die tobenden Leiber der
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