Die Wanifen
schlang zitternd die Hände um meine Knie. Ich gab es nicht gern zu, aber ich hatte mich selten so einsam gefühlt.
Um mich von Kälte und Hunger abzulenken, begann ich leise zu singen. Ein Lied, das mein Vater mir früher vorgesungen hatte, jeden Abend vor dem Einschlafen, bis zu dem Tag, an dem ihn der Ata in seine eisigen Tiefen gezogen hatte.
Großer Geist Ata
Ungestüme Natur
Bändige deinen Zorn
Und schütze dein Kind
Eigentlich hasste ich diese Lieder. Sie erinnerten mich immer an den Tod meines Vaters, aber jetzt linderten sie meine Einsamkeit ein wenig.
Da ich die Urukus nicht gefunden hatte und nicht nach Ataheim zurück konnte, brauchte ich einen sicheren Unterschlupf und Vorräte, bevor der Winter kam. Wie passend, dass ich die lausigste Jägerin im ganzen Seenland war.
Irgendwann fiel ich in eine Art Halbschlaf. Das Rauschen des Wasserfalls hatte etwas Beruhigendes und so versuchte ich, mich darauf zu konzentrieren.
Für einen Augenblick fühlte es sich an, als würde ich durch den nachtschwarzen Urwald laufen, so schnell, als würde ich fliegen. Haselgestrüpp und Fichtenäste bogen sich zur Seite, sobald ich vorbeirauschte. In der Ferne erkannte ich das Glitzern eines entfernten Sees zwischen den mächtigen Stämmen …
Ich schreckte hoch. Etwas hatte mich geweckt, ein seltsamer Lichtschein. Ich blickte mich um und stellte überrascht fest, dass der Weytafall in orangefarbenem Licht glühte, als hätten sich seine unzähligen Wassertropfen in Funken verwandelt.
Ich kniff die Augen zusammen, aber ich hatte mich nicht getäuscht. Das Leuchten ging von einer Stelle in der Mitte des Wasserfalls aus und schien sich langsam zu bewegen. Es hatte den Wasserfall verlassen und jetzt konnte ich auch erkennen, woher es kam.
Es war eine Fackel. Eine brennende Fackel in der Hand einer dunklen Gestalt, die eben hinter dem Wasserfall hervorgetreten war.
»Bei Ata«, flüsterte ich. Hatten mich die Urukus doch bemerkt und nur auf den Schutz der Nacht gewartet, um sich mir zu zeigen?
Die Gestalt streckte mir die Hand entgegen und winkte mich zu ihr herauf. Ich zögerte, dann hängte ich mir den Eibenbogen über die Schulter, hob meinen Stab auf und kletterte über die glitschigen Kalkfelsen hinauf. Ein paar Mal wäre ich beinahe abgerutscht und in die Tiefe gestürzt, weil ich meinen Blick ständig auf die Gestalt gerichtet hielt. Ich konnte nicht viel erkennen, nur manchmal brach sich das Licht der Fackel auf einer weißlichen Fläche, dort wo sich eigentlich das Gesicht befinden sollte. Ich zog mich über den letzten Felsvorsprung hinauf und richtete mich auf. Mit allen Sinnen war ich darauf vorbereitet, mich Aug in Aug mit einem Geist wiederzufinden, trotzdem erstarrte ich, als ich mich der riesenhaften Gestalt gegenübersah. Reglos, als wäre er Teil des Felsens, stand der Uruku vor mir.
Er trug schwarzes Fell und der Schädelknochen eines Löwen bildete sein Gesicht. »Ata«, sprach der Geist mit voller Stimme.
Ich zuckte zusammen.
»Was führt dich in unser Reich?«
Ich senkte den Blick. »Ich suche eure Weisheit. Bildet mich zur Wanife aus.«
»Dies ist keine kleine Bitte«, erklärte der Geist. »Dich auszubilden ist gefährlich.«
»Warum?«, fragte ich. »Ihr habt mich doch gerettet, ihr habt mich zu euch gerufen.«
Der Geist starrte mich wortlos an.
»Bitte«, flüsterte ich. »Ich habe es nicht so gemeint, aber ich muss lernen, eine Wanife zu sein. Ich muss meinen Bruder retten. Er … er …«
»Niemand kann dem Kelpimenschen helfen«, sagte der Uruku leise.
»Lehr mich die Geheimnisse der Wanifen, mächtiger Geist. Und ich finde einen Weg.«
»Streck deinen rechten Arm aus.«
Ich tat wie mir geheißen. Der Geist betrachtete die beiden schwarzen Zeichen auf meinem Handgelenk.
»Fast neu geboren … und schon eine Mörderin«, murmelte er.
Ich sog überrascht die Luft ein. Wie um alles in der Welt …? Dann verstand ich. Das Zeichen des fremden Wanifen auf meinem Handgelenk musste mich verraten haben. Es war direkt nach seinem Tod aufgetaucht.
»Wie hast du ihn besiegt? Hast du deinen Seelengeist gerufen?«, fragte der Uruku scharf.
»Er hat versucht, mich zu töten, und mir ein Monster auf den Hals gehetzt. Ich musste ihm einen Pfeil durchs Herz jagen, sonst wäre ich jetzt nicht hier.«
Der Uruku musterte mich. Ich fragte mich, was für eine Art Geist sich wohl hinter der Furcht einflößenden Knochenmaske verbarg.
»Der Percht ist kein Monster«, erklärte der Uruku
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