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Die Wanifen

Die Wanifen

Titel: Die Wanifen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Anour
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es. Aber seit ich ein Junge war, habe ich beobachtet, wie sich das Eis immer weiter ausbreitet, auch wenn die Gletscher in der Höhe langsam zurückweichen. Vielleicht wird es die Höhle eines Tages völlig verschließen.«
    Ich betrachtete eine Reihe filigraner Eiszapfen und wäre beinahe ausgerutscht, als ich Kauket über ein Eisfeld folgte.
    Der Wanife bewegte sich mit einer Sicherheit über die gefrorene Fläche, die mich vor Neid erblassen ließ, aber ich redete mir ein, dass es nur daran lag, dass er diesen Weg wohl schon sehr oft gegangen sein musste.
    Nach einer Weile entdeckte ich einen schwachen Lichtschein, der nicht von der Fackel zu stammen schien. Kauket beschleunigte seinen Schritt merklich. Kurz darauf sah ich tatsächlich ein großes Loch im Fels, durch das das dumpfe Licht des Morgengrauens fiel.
    Die Höhle hatte zwar großen Eindruck auf mich gemacht, aber ich freute mich schon, wieder freien Himmel über dem Kopf zu haben.
    Ich trat durch das Loch und musste kurz die Augen schließen, denn selbst das matte Licht der Morgensonne erschien mir unerträglich hell.
    Was ich sah, als sich meine Augen wieder an Tageslicht gewöhnt hatten, versetzte mir einen Stich.
    Der steile Talkessel, der kleine, glasklare See … es sah fast genauso aus wie an dem Ort im Wald, an dem Gorman und ich …
    Was half es, jetzt darüber nachzudenken? Die Erinnerung daran erschien mir wie aus einem anderen Leben.
    Das kleine Tal war tatsächlich das perfekte Versteck. Umgeben von einem Ring messerscharfer Felsgrate konnte man es wahrscheinlich nur durch die geheime Höhle hinter dem Wasserfall erreichen. Am Ufer des Sees standen seltsame Hütten, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie standen nicht auf Pfählen im Wasser, so wie die Häuser der Ata, sondern auf festem Grund. Ich konnte mir zwar nicht erklären, wie die Erbauer der Hütten es angestellt hatten, aber ihr Fundament bestand aus riesigen Flusssteinen, die durch irgendeinen Zauber miteinander verbunden worden waren.
    Der Hauptbau zumindest ähnelte einigermaßen dem Stil, den ich kannte. Er bestand aus dicken Fichtenstämmen und wurde von einem Schilfdach abgedeckt.
    »Ist dieses Tal dein Zuhause?«, fragte ich erneut.
    »Wir nennen es das Wanifenhaus«, antwortete Kauket, und stieg einen schmalen Pfad zu den Hütten am See hinab. »Ich wurde hier geboren.« Als wir uns in Hörweite des Dorfs befanden, legte er eine Hand an den Mund.
    »Nephtys, Nephtys, ich bin zurück.«
    Eine schemenhafte Gestalt erschien im Eingang einer der Hütten.
    Als sie ins Licht trat, erblickte ich eine dunkelhaarige Frau, deren Ähnlichkeit mit Kauket selbst aus der Entfernung unverkennbar war.
    Sie hob die Hand und winkte mir lächelnd zu, als wären wir alte Freunde.
    Ihre Kleidung irritierte mich. Sie bestand weder aus Leder noch aus Fell, sondern aus feinen, bräunlichen Fasern.
    Kauket lief auf sie zu und umarmte sie stumm.
    Nephtys löste sich von ihm und beäugte mich neugierig.
    Ich vermutete, dass sie ein paar Jahre jünger war als Kauket, aber vielleicht war es auch nur seine Ernsthaftigkeit, die ihn älter wirken ließ.
    »Du bist also die Wanife der Ata«, sagte Nephtys und berührte meine Wange. »Du siehst wesentlich lebendiger aus als damals im Wald.«
    »Du warst auch dort?«
    »Selbstverständlich«, erklärte Nephtys. Ihre dunklen Augen blitzten. »Mein Bruder und ich haben die ganze Nacht nach dir gesucht.«
    »Wer seid ihr?«, fragte ich. »Wieso versteckt ihr euch hier und wieso halten die Ata euch für Geister?«
    Nephtys warf Kauket einen fragenden Blick zu.
    »Du bist hierhergekommen, um zu lernen«, sagte Kauket. »Lerne zuerst Geduld.«
    Ich holte gerade Luft, um ihm eine entsprechende Antwort zu geben, als Nephtys mir rasch die Hand auf die Schulter legte.
    »Du würdest es doch auch wissen wollen, Kauket.« Nephtys wandte sich wieder mir zu und lächelte. »Wie ist dein Name, Wanife?«
    »Ainwa.«
    »Ainwa … ein schöner Name. Die Ata geben den meisten ihrer Kinder schöne Namen. Du musst hungrig sein und müde.« Nephtys streckte mir einladend die Hand entgegen. Über die Jahre hatte ich gelernt, mit unfreundlichem Benehmen umzugehen, ich erwartete es fast. Durch Nephtys’ Herzlichkeit fühlte ich mich irgendwie entwaffnet.
    Ich nahm ihre Hand und folgte ihr widerwillig in die Hütte, während Kauket mir mit ernster Miene hinterherblickte.
    Im Inneren von Nephtys’ Hütte roch es ähnlich wie bei Alfanger nach Kräutern und getrockneten

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