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Die Wanifen

Die Wanifen

Titel: Die Wanifen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Anour
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»Das erklärt einiges.«
    »Vor der Nacht des Blutmonds«, meinte Kauket, »Hat dir da jemand gesagt, dass du eine Wanife bist?«
    Ich schüttelte langsam den Kopf.
    »Alfanger, unser Heiler, wusste es, aber er hat es mir erst am Tag des Blutmonds erzählt.«
    »Und davor? Gab es ungewöhnliche Zwischenfälle? Hast du Dinge gespürt oder gehört, die eigentlich nicht hätten da sein dürfen?«
    »Manchmal … ja. Aber Alfanger sagte, es wäre nicht gut, mich mit solchen Hirngespinsten zu befassen.«
    »Hirngespinste!« Kauket schürzte missbilligend die Lippen. »An was kannst du dich erinnern?«
    Ein Lächeln breitete sich in mir aus.
    »Ich war noch ein kleines Mädchen. Manchmal fühlte ich mich einsam, nachdem mein Vater gestorben war. Ich saß dann gern am See und … es kam mir vor, als wäre ich nicht allein. Ich sah etwas im Wasser wie silbernes Funkeln.«
    Es fühlte sich ungewohnt an, Kauket von diesen Erlebnissen zu erzählen. Alfanger hatte mir so lange verboten, darüber zu sprechen.
    Kauket musterte mich aus seinen dunklen Augen, dann hob er den Arm und zeigte mir die schwarzen Linien auf seinem Handgelenk.
    »Weißt du, was diese Zeichen bedeuten?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Sie zeigen uns, wer wir wirklich sind. Unsere Kraft, unsere Hoffnungen und Wünsche. Den Kern unseres Wesens.«
    »Es ist nicht gerade angenehm, wenn sie erscheinen«, murmelte ich.
    »Ich weiß«, sagte Kauket. »Ich erinnere mich.«
    Ich strich vorsichtig über die beiden Zeichen auf meinem Handgelenk. Über das obere, das mich vage an einen fliegenden Vogel erinnerte, und über das Zeichen des fremden Wanifen, das eher scharf und kantig wirkte, genauso wie der Fremde selbst.
    »Wer ist Gorman?«, fragte Kauket ernst.
    Ich starrte Kauket schweigend an.
    »Du hast seinen Namen geschrien … im Wald.«
    »Mein Bruder«, flüsterte ich schließlich.
    »Du teilst dein Elchenband mit ihm«, stellte er ruhig fest.
    Ich antwortete nicht. Ich wollte mit Kauket nicht über Gorman sprechen, nicht nachdem er ihn Kelpimensch genannt hatte.
    Kauket seufzte und erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung.
    »Komm«, meinte er und trat aus der Hütte hinaus. »Es gibt viel zu lernen.«
    Ich hob meinen Stab auf und folgte ihm.
     
    Morgennebel lag über dem kleinen See, als ich aus der Hütte trat. Die beiden Haubentaucher, die mich geweckt hatten, glitten elegant über die Wasseroberfläche und rieben ihre Schnäbel aneinander.
    Erst nach einer Weile fiel mir auf, wie still es im Dorf der Urukus war.
    »Schlafen eure Leute noch?«
    Kauket blickte auf den See hinaus und beobachtete die Haubentaucher bei ihrem Liebestanz.
    »Nephtys ist im Wald und jagt …«
    »Und die anderen?«, hakte ich nach, als Kauket nichts mehr sagte.
    »Wir werden sie später treffen.« Kauket setzte sich mit raschem Schritt in Bewegung. Ich musste laufen, um ihn einzuholen.
    »Wenn man Nephtys und mich ansieht, Ainwa, ist es leicht zu erkennen, dass wir nicht aus dem Seenland stammen«, erklärte Kauket, während wir dem Kiesufer des Sees nach Westen folgten. »Wir sind weder Ata noch Abira, keine Mondleute, keine Halla und keine Tráuna.
    Wir sind die Nachfahren eines großen Volkes, einer blühenden Kultur. Unsere Dörfer bestanden einst aus Hunderten Häusern, keine Holzhütten, wie wir sie hier gebaut haben, sondern mit Mauern aus Stein. Wir lebten in einem Land, so weit weg, du könntest es dir nicht vorstellen. Irgendwann, wenn man den Flüssen folgt, die von den Bergen herabfließen, erreicht man den Ort, wo das Land endet und ein unendlicher See beginnt – viele, viele Male größer als der Ata.
    An diesem See lebte mein Volk. Wir besaßen Kleidung, Werkzeug und Boote, wie man sie sich im Seenland nicht vorstellen kann.
    Wir besaßen Schafe, die ständig bei uns lebten und uns Milch, Wolle und Fleisch schenkten und wir ließen Pflanzen wachsen, die uns nährten.«
    Kaukets Miene verfinsterte sich leicht. Mir fiel erst jetzt auf, dass auch er einen Stab trug, genau wie Rainelf. Er bestand aus dunklem Holz und aus seiner Spitze wuchs ein Büschel dunkelgrünes Eichenlaub.
    »Unser Wohlstand erregte den Neid einfacher Völker aus den umliegenden Ländern. Ohne unser Wissen verbündeten sie sich miteinander und eines Nachts kamen sie …
    Ich kenne diese Geschichte selbst nur aus Erzählungen, Ainwa, das alles ist schon mehr als zweihundert Sommer her. In einer Nacht zerstörten sie mit ihrer rohen Gewalt alles, was mein Volk in so langer Zeit aufgebaut

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