Die Wanifen
hatte. Sie verbrannten all die wunderbaren Dinge, die sie nicht verstanden, und töteten jeden, der ihnen unter die Augen kam: Männer, Frauen, Kinder …
Nur einer Handvoll Menschen gelang es, zu entkommen. Schweren Herzens flohen sie aus unserer Heimat und machten sich auf die Suche nach einem neuen Ort, wo sie leben konnten. Monatelang wanderten sie nach Norden. Viele überlebten die Reise nicht.
Die Völker, denen sie begegneten, waren den seltsamen Fremden gegenüber feindlich gesinnt, und vertrieben sie aus ihren Ländern.
Ein halbes Jahr nach ihrer Flucht waren nur noch zwanzig von ihnen übrig, zwanzig von einem ganzen Volk. Geschwächt und kurz vor dem Zusammenbruch erreichten sie schließlich das Seenland.
Bei den Ata lebte damals ein außergewöhnlich mächtiger Wanife. Sein Name war Feort. Feort hatte Erbarmen mit den fremden Menschen, die er in seinen Wäldern fand, und brachte sie nach Ataheim. Er gab ihnen zu essen und sorgte dafür, dass sie von seinem Volk mit offenen Armen aufgenommen wurden.
Sie nannten uns die Urukus, so klang es, wenn sie versuchten, den richtigen Namen meines Volkes auszusprechen. Für einige Zeit lebten Ata und Urukus gemeinsam in Ataheim als ein Volk.
Aber irgendwann kam es, wie es kommen musste. Das Wissen meines Volkes, ihre Werkzeuge und ihre Kleidung erregten Misstrauen und Neid der Ata. Unter vorgehaltener Hand nannte man sie Hexer und die Spannung zwischen den beiden Gruppen wuchs.
Es war Feort, dem es immer wieder gelang, die Wogen zu glätten, doch auch er musste irgendwann einsehen, dass ein weiteres Zusammenleben beide Völker früher oder später ins Unglück stürzen würde. Er ersann einen Plan. Hoch in den Bergen hinter dem Weytafall entdeckte er eine Höhle, die in dieses abgelegene Tal führte. Mitten in der Nacht führte er die verbliebenen Urukus hierher, an einen Ort, an dem sie ungestört leben konnten – das Wanifenhaus.
Den Ata, die das Verschwinden der Urukus erst am nächsten Morgen bemerkten, erzählte Feort, sie wären Berggeister in Menschengestalt gewesen, die nun wieder in ihr fernes Reich im Gebirge gezogen waren, von wo aus sie die Ata beschützten. Feort war ein sehr mächtiger Wanife und die Ata glaubten ihm.
Seine Gnade war es, Ainwa, die ein Band zwischen deinem und meinem Volk formte. Aus Dankbarkeit gelobte mein Volk, sie würden dem Wanifen der Ata von nun an immer zur Seite stehen, wann immer er ihre Hilfe brauchte. Seit damals schützen die Urukus die Wanifen der Ata, die als Einzige ihres Volks unser Geheimnis kennen dürfen und es an ihre Nachfolger weitergeben.«
Die Sonne löste langsam die Nebelschwaden auf, die über dem See lagen. Ich erblickte eine Seeforelle, die eifrig einem Schwarm Elritzen nachjagte.
Nun war ich wirklich neugierig auf Kaukets Freunde. »Wo treffen wir die anderen?«
Kauket wandte sich mir zu. Seine Miene wirkte immer noch wie aus Stein gemeißelt.
»Es gibt keine anderen, Ainwa.«
»Aber du hast gesagt …«
»Wir waren zu wenige. Zu wenige um ein neues Volk zu bilden, von Anfang an … Siehst du die Steine dort?«
Mein Blick folgte Kaukets ausgestrecktem Arm. Zwischen einigen knorrigen Rotbuchen am Waldrand hatte jemand einige ungewöhnlich regelmäßig geformte Felsen gewälzt. Ihre Oberflächen waren über und über mit seltsamen, dunklen Zeichen bedeckt.
»Das sind die Grabmale unserer Vorfahren«, sagte Kauket. »Die neuesten sind erst ein paar Sommer alt.« Er ging zu zwei Steinen hinüber, die als Einzige noch nicht vom Moos überwuchert waren, und berührte sie.
»Hier liegen meine Eltern. Nephtys hat nach ihrem Tod vor Schmerz fast den Verstand verloren.«
Wir spazierten langsam zwischen den Steinen hindurch. Manchmal blieb Kauket stehen und strich gedankenverloren über eines der Grabmale.
Auch bei den Ata gab es ein Gräberfeld. Wenn einer von unserem Volk starb, legten alle ihnen wertvolle Gaben mit ins Grab, die sie in die andere Welt mitnehmen sollten.
Für meinen Vater gab es kein Grabmal. Der See hatte ihn verschluckt und nicht wieder hergegeben. Ein paar Tage nach seinem Tod fuhr Gorman mit mir heimlich hinaus auf den inzwischen eisfreien See, genau zu der Stelle, an der der Ata ihn mir fortgenommen hatte.
Davor hatte ich nächtelang geweint. Ich wurde von Albträumen geplagt, in denen mein Vater nackt und frierend in die andere Welt gehen musste. Ich warf sein bestes Netz in den See und seinen Fuchsfellmantel.
Ich stellte mir vor, wie es für Kauket und Nephtys
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