Die Wanifen
die Fähigkeiten, die wir besitzen, stammen aus der Geisterwelt.«
»Wieso unterscheiden sich die Zeichen?«
»So verschieden die Zeichen sind, so verschieden sind unsere Fähigkeiten. Sag mir, was du denkst. Was denkst du, dass sie bedeuten?«
Ich sah nach oben und beobachtete, wie sich die Dampfschwaden an der Hüttendecke stauten und wieder zu Wassertropfen wurden.
»Als ich dem fremden Wanifen, dem Streuner, meinen Arm zeigte … Ich hatte das Gefühl, es würde ihm etwas über mich verraten, mehr noch, als dass ich eine Wanife bin. Ich glaube, er wollte mich wegen dieses Zeichens töten.«
»Scharf beobachtet. Dieser Wanife war gefährlich – aber ein Narr. Auch wenn er dich getötet hätte, hätte er sich damit am Ende selbst zugrunde gerichtet. Er ist der Verlockung erlegen.«
Ich versuchte, mich an den Gesichtsausdruck des Fremden zu erinnern. Lauernd wie ein Tier hatte er auf mich gewirkt. Das Blitzen in seinen dunklen Augen, als er mein Zeichen erblickte.
»Als ich ihn getötet hab, ging sein Zeichen auf mich über. Er wollte meinen Tod, damit er mein Zeichen bekommt. Aber wieso? Was hätte er davon?«
Kauket schloss die Augen, als versuchte er in diese andere Welt zu blicken, von der er so oft sprach.
»Wenn ein Wanife geboren wird, hat er noch keine Verbindung zur Welt der Geister. Aber in den ersten Jahren unseres Lebens werden wir von einem ihrer Bewohner auserwählt, einem Geist, der uns in unserem Wesen gleicht. Wir nennen diesen Geist den Seelengeist eines Wanifen. Unser Seelengeist beschützt uns, so gut er kann. Als Kind sind wir uns unseres Begleiters noch nicht bewusst. Nur manchmal, in extremen Situationen, wenn wir in Gefahr sind oder Angst haben, bemerken wir seine Gegenwart.
Viele Wanifen wissen nichts von ihrem Seelengeist, bis ihr Blut zum Leben erwacht. Diese Nacht ist vielleicht die wichtigste in unserem ganzen Leben, Ainwa. In dieser Nacht wird durch das Geistzeichen auf unserem Arm das Band zwischen dem Wanifen und seinem Seelengeist besiegelt. Ein Band, das besteht, solange wir leben. Die Fähigkeiten, die ein Wanife entwickelt, sind genau genommen die Fähigkeiten seines Seelengeists. Mit der Zeit lernen wir, diese zu nutzen und zu kontrollieren. Deshalb unterscheiden sie sich zwischen uns auch so stark, Ainwa, sie sind so unterschiedlich wie unsere Seelengeister.«
Ich beäugte die beiden Zeichen auf meinem Arm. Geistzeichen … Sie erinnerten mich schmerzhaft an das Elchenband, das mich mit Gorman verband.
»Wer ist mein Seelengeist?«
Kaukets Daumen strich abwesend über das Geistzeichen auf seinem Handgelenk.
»Nach der Nacht des Blutmonds erscheint uns unser Seelengeist im Traum. Er zeigt uns den Weg in die Geisterwelt, in der wir ihm das erste Mal begegnen. Bist du deinem Seelengeist schon im Traum begegnet?«
Gute Frage … Ich versuchte, mich an meine Träume seit der Nacht des Blutmonds zu erinnern. Die meisten waren nicht angenehm gewesen – Albträume, in denen Gorman sich vor Schmerz wand, ehe er innehielt und mich aus seinen Uhu–Augen anstarrte. Dann gab es auch noch die anderen Träume, in denen ich mit atemberaubender Geschwindigkeit durch den Wald lief. Aber weder in dem einen noch dem anderen hatte ein Geist zu mir gesprochen.
»Wäre es möglich, dass ich mich an den Traum nicht erinnern kann?«
»Du würdest es nicht vergessen, glaub mir.«
»Dann ist er mir nicht erschienen.«
Kaukets Augenbrauen hoben sich erstaunt.
»Vielleicht dauert es noch eine Weile.«
Seiner Miene konnte ich entnehmen, dass ihn das stille Verhalten meines Seelengeists mehr beunruhigte, als er zugab.
»Aber du weißt, wer mein Seelengeist ist. Du könntest es mir sagen, dann wüsste ich wenigstens, wonach ich in meinen Träumen Ausschau halten muss«, schlug ich vor.
Ich platzte vor Neugier, aber gleichzeitig hatte ich auch Angst. Was, wenn es sich um etwas Dunkles handelte? Was, wenn ich für den Rest meines Lebens an einen Geist wie den Kelpi gekettet war?
Kauket nickte.
»Ich werde es dir sagen – aber nicht heute, Ainwa. Du musst bereit dafür sein, sofern man jemals dafür bereit sein kann. In deinem Fall ist es komplizierter als normalerweise.«
Ich seufzte. Großartig. Nicht einmal für eine Wanife war ich normal.
»Also.« Kauket hob die Schale auf und reichte sie mir. »Ein Schluck – nicht mehr!«
Diesmal drängte ich den Widerspruch zurück, der mir auf den Lippen lag, und nahm ihm die Schale aus der Hand.
Vorsichtig roch ich an dem Trank,
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