Die Wanifen
für eine Kreatur mochte das wohl sein? Vor meinem inneren Auge formte sich ein Wesen, das ganz aus Stein bestand, oder vielleicht auch aus Eis. Ich konnte mich nicht recht entscheiden, was besser passte.
»Na denn«, brummte Kauket. »Es geht los.«
Für eine Weile begriff ich nicht, was er meinte, doch einige Augenblicke später hörte auch ich polternde Schritte, die sich rasch näherten. Ich versteifte mich und umklammerte meinen Stab fester. Diesmal hatte ich meinen Bogen zwar mitgenommen, aber – wie ich bereits schmerzvoll festgestellt hatte – in diesem Fall höchstens, um mich selbst zu beruhigen.
Hm … möglicherweise schaffte ich es, hier einen Holunder wachsen zu lassen, aber nachdem in der Nähe auch keiner wuchs, fehlten wohl die entsprechenden Samen in der Erde …
Jetzt reiß dich doch zusammen! Ich war doch sonst nicht so ängstlich. Kauket stand direkt neben mir und ich war sicher, er kannte Wege, um uns notfalls zu schützen.
Vielleicht fürchtete ich mich in Wahrheit nur davor, einem Geist in die Augen zu blicken, dem der Wanife, den ich getötet hatte, so lieb gewesen war wie ein Sohn …
Das Bersten und Knacken im Gebüsch wurde immer lauter.
»Bleib ganz ruhig, Ainwa«, murmelte Kauket. »Du hast alles unter Kontrolle.«
Ich hätte am liebsten aufgelacht, aber wahrscheinlich wäre mir nur ein heiseres Krächzen über die Lippen gekommen, so trocken fühlte sich meine Kehle an.
Mit einem lauten Brüllen brach der Percht durch das Unterholz und segelte auf uns zu. Seine gelben Augen waren auf mich gerichtet, sein zotteliges Fell wehte im Wind.
Instinktiv wollte ich zurückweichen, aber Kauket packte mich an der Schulter.
»Nicht weglaufen«, zischte er mir ins Ohr. »Du bist seine Herrin.« Der Percht landete ein paar Schritte vor mir und richtete sich langsam zu seiner vollen Größe auf. Ich versuchte krampfhaft, das Zittern zu unterdrücken und umklammerte meinen Stab so fest, dass ich meine Finger nicht mehr spürte. Er musterte mich mit einem dumpfen Grollen und legte sein gehörntes Haupt schräg. Wie eine Eule, bevor sie auf eine kleine Haselmaus herabstieß.
Der intensive Moschusgeruch des Perchts raubte mir fast den Atem. Ich wusste, wie schnell dieser Geist sein konnte. Eine unachtsame Bewegung und …
»Sprich mit ihm«, sagte Kauket. »Sag ihm, dass du jetzt seine Meisterin bist.«
Er stupste mich nach vorn.
Der Geist stieß ein leises Fauchen aus und streckte mir seine lange Zunge entgegen.
Ich verzog angewidert das Gesicht. Der Percht schloss sein Maul wieder und beugte sein Haupt hinunter, um mich besser betrachten zu können. Seine Fratze kam mir so nahe, dass uns kaum eine Handbreit trennte. Die Nähe dieser gelben Augen machte es schwer für mich, meine Gedanken zu ordnen.
Gut … reden … ihm klarmachen, dass ich jetzt seine Meisterin bin. Wenn er mich bloß nicht so anstarren würde. Was war das in seinen Augen? War es möglich, dass …? Nein, ich war ganz sicher. Ich wusste zwar noch nicht viel über Geister – aber dieser hier litt … Ich hatte recht gehabt mit meiner Vermutung. Er trauerte immer noch um seinen Wanifen.
»Es tut mir leid«, wisperte ich. »Es tut mir leid, dass du meinetwegen Schmerz empfindest.«
Das zottelige Gesicht des Perchts entfernte sich etwas von meinem. Ich vernahm ein verwirrtes Schnauben.
»Ich hätte ihm nichts getan, ich hab nur um mein Leben gekämpft. Aber du warst ja dabei … Es tut mir leid, dass es keinen anderen Weg gegeben hat.«
Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Es fühlte sich an, als wollte es jeden Augenblick zerspringen. Der Percht senkte sein gehörntes Haupt und schloss die Augen. Plötzlich schien er mir nicht mehr so bedrohlich. Er erinnerte mich an die gramgebeugte Gestalt meines Ziehvaters, als er von Gormans Tod erfahren hatte.
Schließlich öffnete der Percht wieder die Augen und blickte mich an. Er hob eine seiner mächtigen Pranken und streckte sie mir hin. Als sich die Pranke öffnete, erkannte ich ein Häufchen leuchtend roter Himbeeren, auf deren Oberfläche kleine Tautropfen klebten.
»Blangnrrrrl«, knurrte der Percht.
»Für mich?«, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Slrrrr.«
Ich wandte mich fragend an Kauket. Er hatte sich auf seinen Stock gestützt und beobachtete mich lächelnd. Er nickte mir aufmunternd zu.
Mit zwei Fingern nahm ich eine Himbeere aus der Pranke des Perchts und steckte sie mir in den Mund. Ich seufzte unmerklich, als ich die Beere
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