Die Wanifen
zerkaute. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals eine süßere gegessen zu haben.
»Danke.« Der Percht hob die Pranke und stopfte sich die restlichen Himbeeren ins Maul. Er ließ mich keinen Moment aus den Augen, während er sie hinunterschlang.
»Du kannst ihn jetzt wegschicken«, meinte Kauket sanft.
»In Ordnung«, antwortete ich. »Ich brauche deine Hilfe gerade nicht, Percht. Du kannst tun … keine Ahnung, was immer du gern tust.«
Der Percht spannte sich. »Orrrrrg«, knurrte er, dann federte er mit einem kraftvollen Sprung in die Luft. Er landete außerhalb des Kraftplatzes und der wehende Pelz war schnell meinem Blick entschwunden. Ich lauschte, wie seine stampfenden Schritte sich entfernten. Ich seufzte auf und ließ mich erleichtert auf den Waldboden sinken. War das gerade wirklich passiert? Kauket stellte sich neben mich und ich spürte seine Hand auf meiner Schulter.
Als ich aufblickte, nickte er mir leicht zu.
»Gut gemacht.«
Meine Wangen glühten vor Aufregung, als ich Nephtys von der Begegnung mit dem Percht erzählte. Ich bemerkte zwar, wie sie an manchen Stellen besorgt die Stirn runzelte, aber sie gab sich redlich Mühe, ihre Sorge um mich zu verbergen und meine Begeisterung zu teilen.
»Er hat dir Himbeeren geschenkt?« Sie drehte sich überrascht zu Kauket um. »Ist das normal?«
Kauket hockte sich auf die andere Seite des Herdfeuers und blickte zu uns herüber.
»Nun, es scheint, als würde der Percht Ainwa mögen.«
»Mich mögen?«, echote ich. »Ich habe seinen Wanifen getötet.«
Kauket nahm einen Schluck von der dampfenden Fleischbrühe, die Nephtys ihm gereicht hatte.
»Der Percht weiß, dass du nur um dein Leben gekämpft hast, aber aus der Reserve gelockt hast du ihn mit deinem Verständnis für seinen Schmerz. Wenn du mir gegenüber auch so respektvoll wärst, wärst du vermutlich auf dem besten Weg zur Meisterin.«
Nephtys stöhnte und verdrehte die Augen. »Kannst du ein Lob nicht einmal ein Lob sein lassen? Immer kritisierst du nur.« Sie wandte sich mir zu. »Du warst heute großartig, Ainwa. Ich kann mir nicht vorstellen, wie beängstigend das alles für dich gewesen sein muss.«
»Ainwa weiß auch, dass noch ein langer Weg vor ihr liegt, bevor sie ihrem Bruder gefährlich werden kann«, mischte sich Kauket ein.
Für einen Augenblick herrschte Stille. Unbewusst verstärkte ich den Griff um meine Tonschale.
»Was meinst du damit?«, fragte ich leise.
Nephtys warf Kauket einen warnenden Blick zu, doch der blieb völlig unbeeindruckt.
»Nun, du weißt genauso gut wie ich, dass Gorman alles daran setzen wird, dich zu finden. Und sobald die Dämpfung des Elchenbands schwindet, wird er damit auch Erfolg haben. Wir müssen gerüstet sein, wenn das passiert.«
Ich starrte in die Glut des Herdfeuers. Trotz der Wärme in der Hütte war mir plötzlich kalt.
»Ich könnte nie gegen Gorman kämpfen. Ich könnte ihn nie verletzen.«
»Dann möchtest du also sterben«, stellte Kauket nüchtern fest.
Ich schwieg. Vielleicht war es so. Vielleicht würde ich tatsächlich eher sterben, als Gorman zu töten, wenn ich ihm gegenüberstand.
»Ich werde dafür sorgen, dass du bereit bist, wenn es so weit ist«, erklärte Kauket. »Du wirst fähig sein, dich zu verteidigen.«
»Vielleicht, aber ich werde ihn niemals verletzen.«
Zwei Sommer vor dem Blutmond
Es fühlte sich an, als hätte das Leben alle Farben verloren in den Wochen, nachdem die Ältesten Ainwa zur Hexe erklärt hatten. Dabei kümmerte es sie wenig, bei der Heilung der Ata nicht direkt Hand anlegen zu dürfen. Alfanger ließ sie ohnehin nach wie vor die Tränke zubereiten, wenn niemand zusah. Außerdem erfüllte sie noch immer ihre Hauptaufgabe: Das Besorgen der Heilkräuter, das sie oft stundenlang durch den Wald und manchmal auch ins Seemoor führte.
All das hatte aufgehört, sie zu berühren. All das war zu einem dumpfen Einerlei geworden, das nur von dem jähen Schmerz durchbrochen wurde, wenn sie Gorman aus der Ferne beobachtete, wie er mit Weyref und den anderen zur Jagd aufbrach. Sie hatte seit Gormans Heilung nicht mit ihm gesprochen. Die anderen Ata, allen voran Weyref, waren streng darauf bedacht, dass sie sich nicht zu nahe kamen. Einmal hatten sich ihre Blicke aus der Entfernung gekreuzt, aber Ainwa hätte nicht sagen können, ob sich in Gormans Miene Dankbarkeit oder Gleichgültigkeit widerspiegelte.
Alfanger beobachtete ihr Leiden mit stillem Verständnis. Ainwa wusste, dass er sich
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