Die Wanifen
große Vorwürfe machte, weil er sie geschlagen hatte.
Seit diesem Tag befand sich eine unsichtbare Wand zwischen ihnen. Sie lebten und aßen gemeinsam. Sie unterhielten sich über belanglose Dinge, aber jeder Versuch Alfangers, ein wirkliches Gespräch anzufangen, schmetterte sie ab.
»Vielleicht ist es nicht für immer«, meinte Alfanger an einem Winterabend vor dem Herdfeuer. »Vielleicht nehmen sie es eines Tages zurück.«
Ainwa antwortete nicht. In Ataheim würde sie immer die Hexe bleiben. Egal, ob die Alten ihr Urteil zurücknahmen oder nicht, in den Köpfen der Menschen würde sie es bleiben. Manchmal wünschte sie sich beinahe, sie hätten sie damals davongejagt.
Am nächsten Morgen brach sie in den Wald auf, ohne Alfangers Bitte abzuwarten. Ihre Vorräte an Weiden und Eichenrinde neigten sich dem Ende zu und gerade zu dieser Jahreszeit waren viele Ata krank und benötigten diese Zutaten dringend. Besonders im Winter hatte Alfanger ihr immer eingeschärft, niemals unbewaffnet in den Wald zu gehen. Der Hunger trieb die Raubtiere dazu, Menschen anzugreifen und erst ein paar Tage zuvor hatten die Atajäger einen Löwen im Seemoor gesichtet.
Ainwa ignorierte Alfangers Warnungen bewusst. Die Gefahr ließ sie sich lebendiger fühlen, und je waghalsiger ihre Ausflüge wurden, desto besser.
Als es draußen noch stockfinster war, schlüpfte sie in ihre Schneeschuhe aus Otterfell, und stahl sich aus der Hütte.
Es schneite in dichten Flocken. Sie schlang ihre Gamsfelljacke fest um die Hüften. Der gefrorene See war von einer dicken Schneeschicht bedeckt, sodass sie auch neben den Stegen gehen konnte.
Sie mochte den Geruch von frisch gefallenem Schnee und die klare Luft des Winters, auch wenn diese Reize die Kälte und die lange Dunkelheit nicht aufwiegen konnten. Zu keiner anderen Jahreszeit erschien ihr die Welt so geheimnisvoll und manchmal konnte sie sich dann sogar vorstellen, dass der Wald von den Geistern bewohnt wurde, von denen Alfanger ihnen erzählt hatte, als sie noch Kinder waren.
Bis auf das leise Knistern der Schneeflocken und das Knirschen von ihren Schritten war es ruhig im Wald. Ainwa wusste, wo geeignete Bäume wuchsen, die ihr gutes Material liefern würden. Vor einer knorrigen Eiche blieb sie stehen und kramte eine Feuersteinklinge aus ihrem Lederbeutel hervor. Vorsichtig begann sie, die Rinde des Baumes abzuschaben.
»Möchtest du eigentlich sterben?«
Ainwas Herz setzte für einen Moment aus, als sie die dunkle Gestalt erkannte, die hinter einer Fichte hervortrat.
»Gorman?«
Wie konnte das sein? Wie konnte Gorman wissen, dass sie hier war?
»Glaubst du, ich merke nicht, wie du dich absichtlich in Gefahr bringst?«
Ainwa schluckte und senkte den Blick. »Ich darf nicht mit dir gesehen werden«, murmelte sie.
»Ich weiß. Und du denkst, es wär mir egal, oder?«
Sie schwieg und hörte wieder nur das leise Knistern der auftreffenden Schneeflocken.
»Gehst du deshalb immer unbewaffnet in den Wald?«, fragte Gorman sanft.
Ainwa presste die Lippen zusammen und ballte ihre Fäuste.
»Es verletzt mich, was du tust«, sagte Gorman mit bebender Stimme. »Es verletzt mich, dass der Mensch, ohne den … mein Herz nicht schlagen würde, der Mensch, der mir der liebste von allen ist …« Gorman brach ab.
In der Dunkelheit konnte Ainwa seine Miene nicht erkennen, aber er wirkte angespannt. »Es verletzt mich, dass du geglaubt hast, es wär mir egal.«
»Was hätte ich glauben sollen?«, fragte sie leise.
»Ich wär bei dir geblieben, als du bewusstlos warst. Nichts hätte mich davon abhalten können. Vater hat gesagt, sie … sie jagen dich aus dem Dorf, wenn ich dich treffe. Nur weil er sich für dich eingesetzt hat, haben sie’s nicht gleich getan.«
»Ich kann’s ihnen nicht einmal verdenken. Ich hatte genauso viel Angst wie sie.«
»Du musst vorsichtig sein«, sagte Gorman. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie dich fortschicken, meine Kleine.«
»Das muss ja alles sehr hart für dich sein«, sagte sie kühl. Gorman krümmte sich leicht. Ihre Bemerkung musste ihn verletzt haben.
»Ich versteh dich ja«, meinte er. »Viel besser, als du denkst, aber es wird nicht immer so sein. Irgendwann vergessen die Leute und dann wird alles wieder wie früher.«
Diesmal hatte Ainwa nicht die Kraft, ihm zu widersprechen. Sie wollte ihn nicht noch einmal verletzen.
»Inzwischen musst du auf dich achtgeben. Ich will … Ich will, dass es dir gut geht, verstehst du?«
Ainwa fühlte
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