Die Wanifen
und Winter das Zepter in einem einzigen Augenblick getauscht. An den Rändern des Wanifensees hatte sich eine dünne Eisschicht gebildet und ich beobachtete, wie die Enten aufflogen und in Richtung des großen Sees davonzogen.
Nephtys und ich verbrachten den Morgen schweigend. Sie wirkte blass und in sich gekehrt. Es tat mir sehr weh, sie so zu sehen und ich fühlte mich schuldig, weil sie die Hauptleidtragende unseres Streits war, obwohl sie nur versucht hatte, ihn zu schlichten.
Ich fühlte mich nicht weniger niedergeschlagen und das Warten zehrte an meinen Nerven. Ich war wütend auf Kauket, aber ich machte mir auch Sorgen. Mir schien, ich konnte bei dieser Sache nur verlieren.
Nachdem ich Nephtys kein Trost war und ihr stummes Leiden mir nur ein schlechtes Gewissen verursachte, schlug ich mich irgendwann in den Wald und machte mich auf den Weg zum Kraftplatz. Ich wünschte mir nur, Kauket würde das Mädchen rechtzeitig finden und Gorman gar nicht erst begegnen. Vielleicht würden er und die Wanife ja in ein, zwei Tagen zurückkehren, beide lebendig und unversehrt. Tja, manchmal war selbst ich eine Träumerin.
Am Kraftplatz angekommen, rief ich den Percht. Ich hatte nicht vor, in die Geisterwelt zu wandeln, aber ich musste mich irgendwie ablenken, also trainierten wir so wie tags zuvor auf dem Zwiefeld, während Schneeflocken den Waldboden allmählich mit einer dünnen Puderschicht überzogen.
Ich konnte kaum etwas Neues ausprobieren. Der Percht verschwand jedes Mal in der Geisterwelt, wenn er die Grenze des Kraftplatzes überschritt und ich musste ihn jedes Mal mühselig in diese Welt zurückrufen – aber zumindest beschäftigte es mich für einige Stunden.
Zwischendurch drifteten meine Gedanken manchmal ab und mich beschäftigte die Frage, warum Gorman das Mädchen überhaupt töten wollte. Was könnte er von ihr wollen, was er nicht schon besaß? Oder lockte ihn tatsächlich nur die pure Lust am Töten? Denkbar wäre es. In meinem Traum hatte ich dieses unheimliche Verlangen gespürt, sie zerreißen zu wollen wie ein wildes Tier. Aber warum hatte Gorman sie dann so lange am Leben gelassen?
Ich kehrte erst ins Dorf zurück, als es schon dunkel war, und setzte mich zu Nephtys ans Herdfeuer. Sie wirkte noch blasser, noch in sich gekehrter als am Morgen. Ihr stummer Schmerz passte nicht zu ihrer warmherzigen Persönlichkeit.
»Ich habe mich gestern Nacht benommen wie …«, setzte ich vergeblich an, seufzte und schüttelte den Kopf. »Wenn es um Gorman geht, kann ich die Sache einfach nicht mit dem Verstand betrachten so wie Kauket. Ich wollte nicht, dass er sich in Gefahr begibt und … und dass du dir Sorgen machen musst.«
Nephtys lächelte wehmütig. Ihre Augen glänzten feucht. »Ach, Ainwa«, murmelte sie und rückte an mich heran. »Du und Kauket, ihr benehmt euch, als wärt ihr immer im Recht, aber in Wirklichkeit seid ihr nichts anderes als zwei Sturköpfe, die ihre Fehler nicht eingestehen können.« Sie legte den Arm um mich und drückte mich an sich.
»Ich wünschte, er würde mich verstehen«, sagte ich. »Ich kann Gorman einfach nicht töten.«
Nephtys antwortete nicht. Für eine Weile starrten wir beide ins Feuer.
»Und ich wünschte, ich würde mehr Kaukets Erwartungen entsprechen. Ich bin wohl nicht die Schülerin, die er sich gewünscht hat.«
»Ainwa. Meine liebe, dumme Ainwa. Du kennst Kauket noch nicht so lange wie ich. Der einzige Grund, warum du ihn so aus der Reserve locken konntest, ist, weil du ihm so viel bedeutest. Deshalb benimmt er sich dir gegenüber manchmal so seltsam. Er weiß nicht, wie er damit umgehen soll. Kauket kann seine Gefühle nicht so zeigen wie jeder andere.«
»Ach wirklich?« Ich lächelte.
Nephtys schmunzelte kurz. »Ich hoffe, es geht ihm gut.«
»Ja«, murmelte ich. »Hoffentlich!«
Ein Jahr vor dem Blutmond
»Wohin gehst du?«, rief Alfanger, als Ainwa sich gerade zum Eingang hinausschlich. Sie zuckte leicht zusammen. Sie hatte angenommen, dass Alfanger seinen Mittagsschlaf hielt. Nicht das erste Mal, dass sie der alte Mann überraschte.
»Ah, nichts Besonderes«, meinte sie betont leutselig. »Gestern hab ich im Wald ein paar Himmelschlüssel gefunden. Ich dachte, ich such noch ein bisschen weiter. Du weißt, wie dringend wir die Wurzeln brauchen. Das halbe Dorf hustet sich die Seele aus dem Leib nach diesem langen Winter.«
»Ich bin alt, Ainwa, aber ich bin nicht blöd. Es dauert noch mindestens einen halben Mond, bis die
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