Die Wanifen
wenn er uns angreift?«
Ich hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen. Ich ballte die Fäuste so fest, dass meine Handflächen schmerzten.
»Das dachte ich mir«, kommentierte Kauket leise. »Du möchtest mir wirklich helfen, Ainwa?«
Kauket marschierte zu seinem Lager und förderte einen Faserbeutel hinter den Fellen zutage.
»Kauket«, murmelte Nephtys beschwörend, aber er ignorierte sie.
Er hockte sich neben mir auf den Boden. Mit einer ungeduldigen Handbewegung winkte er mich zu ihm hinunter und breitete eine Lederunterlage auf dem Boden aus. Er griff in den Beutel und legte verschiedene Pflanzen- und Pilzteile sorgfältig nach Art geordnet auf das Leder. Sobald ich mich gesetzt hatte, stellte ich überrascht fest, dass trotz der Jahreszeit alles frisch geerntet war. Kauket musste sie erst kürzlich wachsen gelassen haben.
Ich erkannte die tiefblauen Blüten des Eisenhuts, frische Eibenzweige mit leuchtend roten Beeren, schwarz glänzende Tollkirschen, die Dolden des Schierlings, blass grüne Hüte vom Knollenblätterpilz, Bilsenkraut … Das, was da gerade vor mir lag, waren die tödlichsten Gifte des Seenlands.
»Niemand«, sagte Kauket, »kennt sein Herz so wie du. Sieh sie dir an und sag mir, welches Gift Gormans Herz zum Stillstand bringen kann.«
»Was?«
»Gorman ist die stärkste Kreatur, die mir je unter die Augen gekommen ist. Er hat alle Fähigkeiten des Kelpis und wie viel er zusätzlich noch von dir hat, weiß ich nicht. Wenn wir ihn aufhalten wollen, brauch ich deine Hilfe. Ich muss wissen, in welches Gift ich meine Speerspitze tauchen soll.«
Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich.
»Ich werde alles tun, was du von mir verlangst«, murmelte ich mit zitternder Stimme. »Aber ich kann dir nicht helfen, ihn zu töten.«
»Und wie soll ich dieses Mädchen dann retten? Soll ich sie für immer vor ihm verstecken? Und jeden anderen, den er sich in Zukunft als Opfer erwählt?«
»Ich weiß es nicht.«
»Vielleicht sind deine Leute die Nächsten, Ainwa. Du bist ihre Wanife. Es ist deine Verantwortung, das zu verhindern.«
»Es muss einen anderen Weg geben, hörst du? Ich werde Gorman zurückholen.«
»Gorman ist tot«, schrie Kauket mich an. Ich hatte ihn noch nie so aufgebracht erlebt. Zornesröte stand in seinem sonst so kontrollierten Gesicht.
»Dieser Dämon ist längst nicht mehr dein Bruder. Kein Wanife der Welt kann ihn mehr zurückholen. Sogar seinen alten Namen hat er abgelegt, Erlkönig nennt er sich jetzt. Dein Bruder hat sich für dich geopfert. Du schuldest es ihm, ihn endgültig von seinen Qualen zu erlösen.«
»Nur weil dein Herz aus Asche ist«, flüsterte ich mit bebender Stimme, »trifft das noch lange nicht auf mich zu.«
Kauket starrte mich mit wutschäumendem Blick an. Diesmal hatte ich das Gefühl, dass er den Drang unterdrückte, mich zu schlagen.
»Ich bin froh, dass Ata dich aufgegeben hat.«
»Kauket«, rief Nephtys entrüstet.
»Lass ihn«, erwiderte ich. »Endlich sagt er, was er wirklich von mir hält.«
»Ein Feigling wie du wäre seiner Kraft nicht gewachsen.«
»Nur weiter«, meinte ich. »Lass mich spüren, wie überlegen du mir bist, wie viel besser. Der bessere Wanife, der bessere Mensch. Komm schon. Zeig’s mir!« Ich spürte, wie mir Tränen der Wut in die Augen stiegen.
Kauket maß mich mit einem kühlen Blick. Dann wandte er sich wortlos ab und stürmte aus der Hütte. Ein Schwall eisiger Luft wehte herein, als er das Wisentfell zurückschlug.
»Kauket«, rief Nephtys und rannte ihm hinterher. »Kauket! Komm zurück, bitte!«
Ich lauschte … Für einen Moment war ich fast sicher, er würde zurückkommen, aber die einzige Antwort, die Nephtys erhielt, war das Heulen des Windes.
Kauket war fort, um das Mädchen zu retten und Gorman zu töten.
Damit hatte er sowohl Nephtys als auch mich in banger Ungewissheit zurückgelassen und diese Tatsache machte mich noch wütender als ich ohnehin schon war.
Weder Nephtys noch ich schliefen in dieser Nacht. Ich hätte ihr Schluchzen nicht hören müssen, um zu wissen, wie sehr die Angst um ihren Bruder an ihr nagte.
Ich hätte sie ja gern getröstet, aber ich wusste nicht wie. In meinem Kopf spielte ich jeden einzelnen Satz durch, den Kauket und ich uns gerade an den Kopf geworfen hatten, und schloss mit zusammengepressten Lippen die Augen.
Ein Jahr vor dem Blutmond
»Ruhig, ganz ruhig. Atme aus und dann lass los, Ainwa.«
Ainwa versuchte, sich zu entspannen und blies
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