Die Wanifen
Ein Ort, an dem wir keine Angst haben müssten, entdeckt zu werden.«
Ainwa löste den Blick von der glatten Oberfläche des Sees und wandte sich ihm zu. Er schlug die Lider nieder.
»Wieso fragst du mich das?«
»E… entschuldige. Ich … ich hab gedacht …«
»Wieso fragst du mich das?«, unterbrach ihn Ainwa grinsend, »wenn du doch genau weißt, dass das die beste Idee ist, die du je hattest.«
Auch als der nächste Morgen graute, hatte der Schneefall noch nicht nachgelassen. Ich hatte in dieser Nacht kein Auge zugetan, so sehr sorgte ich mich. Ich hatte Angst um Kauket, Angst um das namenlose Wanifenmädchen aus meinen Träumen und ja, auch Angst um Gorman.
Die dünne Eisschicht hatte sich bereits über den ganzen See ausgebreitet, bald würde er vollständig erstarrt sein.
Nephtys hatte begonnen, mich die Geister des Seenlands abzufragen. Eine Tätigkeit, die uns beiden half, auf andere Gedanken zu kommen. Ich musste bald feststellen, wie viel mehr Nephtys über die Geister wusste als ich, obwohl sie vermutlich nie einen zu Gesicht bekommen hatte.
»Das Frostkindl«, meinte sie.
»Frostkindl …«, wiederholte ich und versuchte, vor meinem inneren Auge das passende Geistzeichen zu sehen.
»Sieht aus wie ein geflügeltes Kind. Ähm … Wird meistens um die Wintersonnenwende herum gesehen. Ein sehr freundlicher Geist. Hinterhältigkeit ist ihm fremd. Spendet unschuldigen Seelen Licht und Wärme.«
»Gut. Der Alb!«
Für einen Augenblick war ich verwirrt.
»Über den hat Kauket nie gesprochen, aber die Ata fürchten ihn, ich schätze also nicht, dass er besonders freundlich ist.«
»Entschuldige«, meinte Nephtys lächelnd. »Ich wollte Kauket nicht vorgreifen. Mir hat er auch nicht viel erzählt, deshalb war ich neugierig.«
»Was hat er dir erzählt?«
Nephtys runzelte die Stirn in einer sehr treffenden Imitation ihres Bruders. »Halt dich fern! Halt dich fern! Halt dich fern!«
Sie lachte leise.
Ich musste ebenfalls schmunzeln. Das hörte sich wirklich nach Kauket an. Strenge Regel – keine Begründung.
»Das Raurackl.«
»Ein Mischwesen«, erwiderte ich und malte in Gedanken die gewundenen Linien des Zeichens nach. »Ein sehr eitler Geist. Lässt die Bäume hoch wachsen.«
»Nicht schlecht. Du hast noch vergessen, dass es ziemlich angriffslustig sein kann.«
Unser Spiel ließ den Vormittag wie im Flug vergehen. Aber während ich Nephtys’ Fragen beantwortete, wanderte mein Blick manchmal zu meinem Felllager hinüber, auf dem noch immer die Lederunterlage mit den Giftpflanzen lag, die Kauket vor seiner Abreise darauf ausgebreitet hatte. Weder ich noch Nephtys hatten sie seither angerührt. Es fühlte sich an, als wäre es der letzte Rest von Kauket, der uns noch geblieben war. Die tiefblauen Blüten des Eisenhuts waren längst verwelkt, die Knollenblätterpilze eingetrocknet. Einzig der Eibenzweig sah noch frisch aus.
»Ich frage mich, wo er gerade ist«, meinte ich unvermittelt.
Nephtys biss sich auf die Lippen und erhob sich. Sie sammelte ein paar Holzstücke auf und legte sie behutsam ins Feuer.
»Meinst du, Kauket hätte mich mitgenommen, wenn Ata zu mir zurückgekehrt wäre?«
»Wieso zurückgekehrt?«, fragte Nephtys. »Ata war doch niemals bei dir.«
»Nein …«, erwiderte ich nachdenklich.
»Ich bin froh darüber.« Nephtys strich mir über den Kopf. »Nur manchmal frage ich mich …«
»Was?«
»Manchmal frage ich mich, was es war, warum er dich aufgegeben hat.«
Ich sank ein wenig mehr in mich zusammen und schlang die Arme um meine Knie.
»Das musst du schon ihn fragen.«
Später am Tag half ich Nephtys beim Holzhacken, so lange bis meine Hände voller Blasen waren. Nephtys lächelte kopfschüttelnd, als sie meine schmerzverzerrte Miene bemerkte. Die körperliche Arbeit ließ uns die Kälte und den Schneefall leichter ertragen, und als wir fertig waren, hatten wir genug Scheite für mindestens einen Monat gehackt. Erschöpft ließ ich das Feuersteinbeil in den Schnee plumpsen und ging in die Hütte. Ich schwitzte unter meiner dicken Fellkleidung und bedauerte, dass ich nicht einfach in den See springen konnte, um mich abzukühlen.
Ich hatte das Gefühl, dieser Tag zog sich endlos hin, obwohl es tatsächlich kaum halb so lang hell war wie im Sommer.
Als die Nacht schließlich doch hereinbrach, half ich Nephtys beim Zerstampfen getrockneter Kräuter. Wir sprachen nicht viel dabei und ich verrichtete meine Arbeit langsamer als notwendig, damit ich
Weitere Kostenlose Bücher