Die Wasserfälle von Slunj
veränderte vollends das konkrete Leben. Jetzt kam ihr Knie, aber sein eigenes auch schon. Sie reichte ihm die Zuckerdose und sagte, vorgeneigt und im reinen Conversationston, wie eine leichthin fallen gelassene freundliche Bemerkung: „In deiner Manteltasche ist ein kleiner Zettel. Genau lesen.“
Danach ging man noch einmal in’s Laboratorium und Frau Henriette zog sich zurück, nachdem sie drei Handküsse entgegengenommen hatte: einen vom Gatten, einen vom Sohn und einen von Zdenko. Sie preßte kurz und stark seine Fingerspitzen mit den ihren.
E r ging zu Fuß und auf Umwegen durch die Erdbergerstraße, die Sophienbrückengasse hinab (am Gymnasium vorbei, das jetzt als toter Block lag und morgen wieder wimmeln würde), dann nach links, und zuletzt in’s ,Café Zartl‘. Hier gab es ein Telephon. Zdenko rief bei Hofmock an, bekam Fritz an die Muschel und entschuldigte sich für die heutige Clubsitzung: er habe eine Theaterkarte bekommen. „Servus, auf morgen.“ Damit lag der Abend frei, schwebte im Unbestimmten.
Alles schwebte. Während er die Erdbergerstraße entlang ging, hielt er in der linken Manteltasche ein kleines Blättchen Karton, ein Kärtchen, oder was es schon sein mochte. Es schnitt leicht in seinen Handteller. Er wollte es auf der Straße nicht hervornehmen, hatte es also noch garnicht gesehen. Er fürchtete, merkwürdigerweise, jemand würde es ihm wegreißen, oder jemand würde ihn beobachten, oder es könnte herabfallen. Zdenko zog die Luft ein. Er vermeinte, einen Hauch von den fernen Prater-Auen zu spüren, was doch hier kaum sein konnte. Sie lagen dunkel in der Nässe des endenden Winters, da und dort vielleicht ein Licht, eine Straßenlaterne, auf der Hauptallee etwa. Der Straßenverkehr war gering. Das Pflaster glänzte feucht. Es war geschehen. Ja, es war wirklich geschehen. Zdenko befand sich in einem noch nie erlebten Einklange mit sich selbst. Dieser Accord war geradezu dröhnend.
Im Café zuerst zum Telephon ohne den Mantel abzulegen: vor allem mußte dieser Abend freigeräumt werden. Was geschehen war, vertrug sich mit nichts anderem. Dann erst wählte er einen Platz. Deren waren genug frei. Es war still hier. Zdenko hängte seinen Mantel auf einen Kleiderständer. Dann griff er in die linke Tasche und nahm hervor, was darin war, ohne es anzusehen. Wieder schnitt das Kartonblatt leicht in seinen Handteller. Jetzt zog er sich in eine Ecke mit roten Polsterbänken zurück. Eben kam der alte Ober, der Herr Josef, die Brille auf der Nase, und grüßte zeremoniös. Die ,jungen Herren Studenten‘ wurden von ihm geschätzt. Die meisten waren bescheiden und dabei freigebig in Trinkgeldern. Als Zdenko seinen ,Einspänner‘ bestellt hatte, legte er das Blättchen vor sich auf den Tisch und sah es an. Aber da war nichts zu sehen, nur die leere weiße kleine Fläche. Er wandte das Kärtchen um. Hier stand mit Bleistift überaus deutlich geschrieben: Nächsten Sonntag. Auhofstraße 123, Hietzing. Erster Stock, Türe links von der Stiege, Punkt 5 Uhr.
Zdenko verwahrte das Blatt. Unter ihm stand durch Augenblicke ein kreisender, dröhnender Trichter; und nun sank er selbst auf dessen Grund hinab.
Wieder heraufgetaucht, sah er, daß aus der bewegten Drehtür jetzt ein sehr großer, ja endlos langer Herr hervorkam. Es war einer der beiden ,Engländer‘. Das erste, was Zdenko hier empfand war, daß ihn diese Leute nichts mehr angingen. Sie standen in einem Raume, den er verlassen hatte. Ebenso übrigens der M.C. Es benahm sich der ,Engländer‘ so, wie von ihm zu erwarten war, wie es sich für ihn gehörte. Nachdem er seinen Mantel abgelegt und sich in einer entfernten Ecke niedergelassen hatte, streckte er seine endlosen Beine aus, zog eine lederne Tabaks-Tasche und die kurze Pfeife hervor und begann diese zu stopfen. Dann verschwand er hinter einer Zeitung und blieb verborgen, bei obschwebenden blauen Rauchwolken. Doch währte seine Versunkenheit nicht lange. Die Drehtür entließ eine kleine schlanke und dunkle, höchst unenglisch aussehende Dame, die auf den hinter der Zeitung Verschwundenen zuging und ihm an die Schulter tippte. Sogleich, aber ohne Überraschung und mit gemessener Langsamkeit, erhob sich der ,Engländer‘, begrüßte die Dame und half ihr aus dem Mantel.
Diese Vorgänge langweilten Zdenko bereits erheblich und benahmen ihm die Lust, hier weiter zu bleiben. Er verließ bald das Café und wandte sich nach rechts, gegen die Brücke und den Donaukanal zu. Hier, an der
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