Die Wasserfälle von Slunj
ältesten und der jüngsten lag ein Unterschied von 14 Jahren. Die übrigen Unterschiede waren gering. Alle konnten als hübsche Mädchen gelten, die älteste sogar als schön. Aber sie zählte nun über dreißig. Einen noch älteren Sohn gab es auch. Dieser war verschwunden. Sein Vater sagte von ihm durch einige Jahre, er sei ein Taugenichts, besaß aber dafür keinen anderen Urteilsgrund, als daß Paul nicht hatte in’s Geschäft treten wollen. Er lebte zu München als Arzt, sogar als ein höchst angesehener, so jung er war, noch keine vierunddreißig. Sein dem Vater unwillkommenes Medizinstudium hatte er nicht auf elterliche Kosten gemacht und auch nicht in Wien. Er war von anderer Seite finanziert worden. Diese Seite wurde vom alten Harbach ,die Frauensperson‘ genannt. Paul war früh dem Pferdestalle entwichen, gleich nach der Reifeprüfung. Es scheint da in München schon alles für ihn bereit gewesen zu sein. Hier auch hatte er studiert – unter günstigen äußeren Bedingungen – seine Prüfungen und die klinischen Jahre gemacht und sich schließlich als Facharzt für Innere Medizin niedergelassen. Doch war er unverheiratet geblieben (,Frauensperson‘?!). Paul pflegte seine Eltern in Wien zu besuchen, wenn auch selten; die Distanz, welche ihm zu erstellen gelungen war, mußte von jenen schließlich hingenommen werden, sie war nicht mehr zu überhüpfen, die Hecke vor einem ihnen gänzlich fremden Leben war dicht gewachsen. Doctor Paul Harbach befleißigte sich übrigens seinen Eltern gegenüber der größten Aufmerksamkeit und Artigkeit; das gehörte wohl zur Distanz. Fast von selbst versteht es sich zuletzt, daß er gänzlich anders aussah als seine Eltern und Geschwister. Er war mittelgroß und dunkel.
Vielleicht wäre er, trotz der Unstimmigkeiten zwischen dem Vater und ihm, in Wien geblieben und hätte hier sein Medizin-Studium durchlaufen, wäre nicht, noch bevor er die Maturitäts-Prüfung abgelegt hatte, eine für ihn wesentliche Bindung an die Heimat fortgefallen und abgebrochen: durch die Übersiedlung der Familie Russow nach Budapest. Die Russows hatten ihn noch mit dem Elternhause verbunden, ja, sie allein, wenn man’s genau nimmt. Irma Russow, damals halbwüchsig, gehörte zu den Freundinnen seiner heranwachsenden zwei ältesten Schwestern, obschon sie durch ihre geringe Körpergröße dazu wenig geeignet schien. Aber es war ja die Zeit der Konkurrenz, der höheren oder geringeren Notierungen, des ganzen Pferdehandels also, für Hilda und Jenny und gar für Grete noch nicht angebrochen; man kälberte ohne Spannung und Absicht im Vorzimmer des Lebens, das weit mehr wie ein Kinderzimmer aussah.
Hierin liegt ja eine unserer profundesten Täuschungen. Wir vermeinen, das Spiel gälte erst, wenn wir erwachsen sind, und die Punkte vorher würden sozusagen nicht gezählt. Aber wer ist schon erwachsen? Wer auf sich selbst nicht mehr hereinfällt, könnte da geantwortet werden. Hiezu genau befragt, müßten auch ältere Personen feststellen, daß ihre Erwachsenheit von vorgestern stammt. Darauf wartet die Punkte-Zählung keineswegs. Vielmehr hat es den Anschein, als sei diese bis zum achtzehnten oder siebzehnten Jahre sehr genau, und werde dann schlampiger und liberaler. Bis fünfzehn geht einmal sicher nichts durch und alles wird später genauestens präsentiert. Damals haben wir also wirklich gelebt, mit Strich-Ätzung sozusagen. Später wird’s dann ein Geschmier und Gepatze. Man könnte jenen, die in unkontrollierter Weise allein an die Gültigkeit ihres ,erwachsenen‘ Lebens glauben, ein nettes Ärgernis und Gelegenheit zu heftigen und honetten Protesten geben, wenn man ihnen sagte, daß mit Fünfzehn schon alles vorbei gewesen sei, und das Folgende die unordentliche Ausführung, wenn nicht überhaupt nur schlechtere und verschwommene Wiederholung eines ursprünglich sauberen und genauen Entwurfes.
Jedenfalls stand da hinten alles in Klarheit noch heute für ihn, den Doctor Paul Harbach. Die Mädchen waren damals nicht mit auf dem großen Eislaufplatze beim Stadtpark gewesen (wo er sich nie im geringsten um sie zu kümmern pflegte, es war ja die Gouvernante dabei). Von dort also kommend und mit den zusammengeschnallten Eislaufschuhen unterm Arm – die ,Halifax‘-Schlittschuhe waren an den hochzuschnürenden Stiefeln fix angeschraubt – betrat er das Vorzimmer in der Reichsratstraße. Warum die Schuhe? Es war nicht mehr möglich, sich daran zu erinnern. Man hatte doch in der Garderobe des
Weitere Kostenlose Bücher