Die Wassermuehle
Treffen leider auf Donnerstag verschieben. Gleicher Ort, gleiche Zeit.
Wenigstens ihre Telefonnummer hätte er aufschreiben können! Hedi rief die Auskunft an, aber eine Vivienne Chantal Belrot gab es in Frankfurt nicht, zumindest nicht im offiziellen Telefonverzeichnis. Sie zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Müll. Vivienne war nicht ihre Freundin. Und sie hatte weder mittwochs noch donnerstags Lust, sich mit ihr zu treffen.
* * *
Als Klaus nach Hause kam, war es fast Mitternacht. Die Schlafzimmertür quietschte, und er fluchte unterdrückt. Hedi hörte, wie er sich im Dunkeln auszog. Sie knipste die Nachttischlampe an.
„Entschuldige, Schatz. Ich wollte dich nicht wecken.“
„Du bist betrunken!“
Er lächelte. „Nur ein bisschen. Und ziemlich müde.“
„Wo warst du?“
„Im Vincenzo. Uli hat angerufen, und ...“
„Ach ja? In die Kneipe gehen und bis in die Nacht mit deinem Kollegen saufen, das kannst du! Aber mit mir nachmittags in den Odenwald zu fahren, ist dir zu anstrengend!“
„Hedi, bitte ...“
„Gute Nacht.“
Sie drehte sich um und machte das Licht aus. Wenn sie weniger wütend gewesen wäre, hätte sie seinem Gesicht angesehen, dass Uli nichts Gutes erzählt hatte.
K APITEL 5
H edi stand vor dem Schlafzimmerspiegel und ärgerte sich, dass sie darüber nachdachte, was sie zum Treffen mit Vivienne anziehen sollte. Sie verabscheute Modeschnickschnack. Seit sie als Kind ihre Kleider zerschnitten hatte, trug sie Hosen, meistens Jeans, nach Anlass und Jahreszeit mit Bluse, T-Shirt oder Pullover kombiniert. Nicht einmal zu ihrer Hochzeit hatte sie eine Ausnahme gemacht. Warum also zerbrach sie sich jetzt den Kopf?
Sie nahm eine rote Seidenbluse vom Bügel. Im Spiegel sah sie einen bräunlichen Fleck auf der rechten Brusttasche. Es war zum Verrücktwerden! Jedesmal hatten ihre Sachen Flecken, wenn sie sie anziehen wollte. Sie musste es beim Bügeln übersehen haben. Wahrscheinlich hatte der Kommissar im Tatort gerade den Mörder überführt. Sie warf die Bluse in den Wäschekorb, zog den rotweißen Pullover an, den ihr Tante Juliette zum vorletzten Geburtstag gestrickt hatte und kramte die schwarzen Slipper aus dem Schuhschrank, die sie für ihren nächsten Pflichtbesuch bei Bernd und Anette gekauft hatte. Ihr Haar bändigte sie mit einer Spange, über den Pullover drapierte sie ein schwarzes Tuch. Der eingetrocknete Rest in der Make-up-Tube entband sie von der Entscheidung, ob sie sich schminken sollte oder nicht.
Vivienne stand vor dem Domportal und winkte aufgeregt. Unter ihrem gelben Seidenmantel trug sie ein grünes Kleid. „Hedwig! Schön, dass du kommen konntest.“
Hedi streckte ihr die Hand hin. „Hallo.“
Vivienne seufzte. „Was hast du schöne, warme Hände! Ich hasse diese kalte Jahreszeit.“
„So kalt ist es gar nicht“, meinte Hedi mit Blick auf Viviennes nackte Füße, die in froschgrünen Pumps steckten.
Vivienne raffte ihren Mantel zusammen. „Du hast recht: Es ist meine verflixte Eitelkeit, die mich frieren lässt. Bevor ich zu einem gelbgrünen Gletscher erstarre, sollten wir ins Georgies gehen. Es ist nicht weit von hier. Was machst du für ein Gesicht?“
„Deine ... äh, Einsicht überrascht mich.“
Vivienne prüfte den Sitz ihres tizianroten Haares, das sie zu einem eleganten Knoten geschlungen trug, und hakte sich bei Hedi unter. „Liebste Hedwig! Du solltest wissen, dass Überraschungen aller Art seit jeher meine Spezialität sind. Im Leben wie in der Kunst.“
„Dann bin ich ja beruhigt“, ging Hedi auf ihren lockeren Tonfall ein. Wider Erwarten genoss sie die Blicke der Passanten, als sie mit Vivienne den Domvorplatz überquerte.
Das Georgies lag in einer Seitenstraße und gehörte zu den Lokalitäten, die Hedi von sich aus nie betreten würde: weißgekachelter Boden, kahle Wände, chromglänzendes Mobiliar und Gäste, die aussahen, als kämen sie geradewegs von einer Mailänder Modenschau. Die Bedienung, ein gelgestylter junger Mann, nahm Vivienne lächelnd den Mantel ab.
„Ich hoffe für dich, dass mein Lieblingstisch frei ist, János“, sagte sie mit einem Augenzwinkern.
János verbeugte sich. „Aber sicher, Frau Belrot!“
Bevor er sich Hedi zuwenden konnte, hatte sie ihre Jacke an die Garderobe gehängt. Er zuckte entschuldigend mit den Schultern und führte sie zu einem der Tische, die an den gardinenlosen Fenstern standen. Hedi zwängte sich in ein bar jeder Kenntnis der menschlichen Anatomie konstruiertes
Weitere Kostenlose Bücher