Die Wassermuehle
Atelier, drei Schlafzimmer, zwei Bäder, einen Ankleideraum, die Küche und einen Salon, der größer war als die Winterfeldtsche Fünfzimmerwohnung. Vivienne sammelte Antiquitäten und erzählte die Geschichte jedes Möbelstücks, während sie Hedi durch die einzelnen Räume führte. Hedi nickte interessiert.
Die deckenhohen Fenster im Atelier gefielen ihr besonders gut. Sie ließen viel Licht herein. Auf mehreren Staffeleien standen fertige oder halbfertige Ölgemälde. Es roch nach Farbe und Firnis. Hedis Blick fiel auf ein Bild mit grauen Rechtecken und schwarzgrünen Kreisen. Die Farben waren flächig aufgetragen, die Konturen hart.
„Der Untergang“ , sagte Vivienne. „Gefällt es dir?“
Hedi zuckte mit den Schultern. „Es ist irgendwie unheimlich.“
Vivienne lächelte. „Ich habe bis vor einigen Jahren gegenständlich gemalt. Aber im Abstrakten kann man mehr ausdrücken. Ich versuche, Gefühle zu abstrahieren, Licht und Energie auf die Leinwand zu zwingen.“
„Mhm“, sagte Hedi und ging zum nächsten Bild. Schwarze Linien schlängelten sich über eine rote Fläche und verschwanden in einem Klecks, der wie ein ausgelaufenes Tintenfass aussah.
Vivienne trat neben sie. „Ich halte es mit Paul Klee: Die Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar. Meine Bilder sind Landschaften der Seele.“
Hedi deutete auf den Klecks. „Das da auch?“
„Das ganz besonders.“
„Warum?“
Vivienne sah zum Fenster. „Die Musik über alles lieben, heißt unglücklich zu sein. Behauptet auch Paul Klee. Und was sind Bilder anderes als Lieder für die Augen?“
Hedi sagte nichts.
„Du überlegst, wer Paul Klee ist, stimmt’s?“
„Ich habe vorhin schon überlegt, wer Clemendingsbums ist.“
Vivienne lachte. „Georges Clemenceau, geboren 1841, gestorben 1929; Arzt, Essayist, Premierminister, Freund und Förderer von Claude Monet, den ich sehr verehre.“
„Der mit den Seerosen?“
Vivienne nickte. „Paul Klee war ein Schweizer Maler und Grafiker. Während einer Studienreise nach Tunesien im Jahr 1914 fand er zu einem abstrahierenden Bildaufbau, in dem die Farbe dem linearen Gerüst gleichwertig wurde. Seine Kunst wurde von den Nazis als entartet abgelehnt. Er starb 1940.“
„Du bist schlimmer als der alte Junker.“
Vivienne zuckte mit den Schultern. „Dafür weiß ich bis heute nicht, wann der Dreißigjährige Krieg zu Ende war.“
„1648. Aber mehr als ein Ausreichend hat mir das auch nicht eingebracht.“
Lachend verließen sie das Atelier.
Vivienne führte Hedi durch alle Zimmer, bis auf eins, das neben dem Atelier lag und keinen Zugang vom Flur aus hatte. Hedi nahm an, dass es sich um die Abstellkammer handelte.
Im Salon, den Vivienne als Wohn- und Esszimmer nutzte, bewunderte Hedi zwei Kentia-Palmen, die ein altertümliches Sofa flankierten. Sie standen in Terrakottakübeln und verbreiteten einen Hauch von Urwald. So etwas hatte sich Hedi immer gewünscht, aber in ihrer Wohnung überlebten nur Kakteen. Bis Christoph-Sebastian zu Besuch kam.
Vivienne zeigte auf das Kanapee. „Ein Josef-Danhauser-Sofa, Biedermeier, aus der Zeit zwischen 1820 und 1830. Eins meiner Lieblingsmöbel.“
Hedi setzte sich. „Es unterscheidet sich wohltuend von dem Dekostahlrohr im Georgies , das die Bezeichnung Stuhl trägt.“
„Banause“, sagte Vivienne lächelnd.
„Warum suchst du dir auch die künstlerisch unbegabteste Mitschülerin deines Jahrgangs als Gesprächspartnerin aus?“
„Weil ich ab und zu den Wunsch verspüre, mich mit jemandem zu unterhalten, der völlig normal ist. Außerdem kann ich mich daran erinnern, dass unsere Kunstlehrerin von deinen Keramikvasen hingerissen war. Möchtest du einen Tee?“
„Ja. Und ich kann mich erinnern, dass das einzige Lob, das mir die gute Frau Wohlfarth mit Te-ha am Ende je zollte, eine Massenproduktion windschiefer Gefäße nach sich zog.“
„Grün oder schwarz?“
„Bonbonfarben.“
Vivienne lachte. „Ich meinte den Tee! Ich war ganz neidisch auf deine Vasen, auch wenn ich es nie zugegeben hätte.“
„Den Tee bitte schwarz.“ Hedi schaute nach oben. Durch die Palmwedel schimmerte die weiße Stuckdecke. War es nicht schön, dass eine Frau wie Vivienne Wert auf ihre Freundschaft legte?
Als Hedi auf dem Nachhauseweg in Offenbach aus der S-Bahn stieg, war es schon dunkel. Der kleine Blumenladen in der Frankfurter Straße hatte noch offen. Die Palmen waren zu groß und zu teuer, aber die Bubiköpfe sahen hübsch aus.
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