Die Wassermuehle
„Ich nix sehn, gar nix. Verstehn?“ Sie schloss die Tür.
Klaus ging die Treppe hinauf. „Dann fragen wir halt bei der schlechten Frau Söngül nach. Und damit lassen wir es bewenden, oder was meinst du?“
Dagmar nickte.
Ayse Söngül hatte kurzes schwarzes Haar und dunkelbraune Augen. Sie trug Bluejeans und einen roten Pullover. Klaus schätzte sie auf Anfang bis Mitte zwanzig.
„Kommen Sie doch bitte herein“, sagte sie lächelnd.
„Wir haben nur eine kurze Frage“, sagte Klaus. „Haben Sie vor einer halben Stunde zufällig aus Ihrem Fenster geschaut?“
„Hat sich wieder jemand über mich beschwert?“
„Nein, es ist nur ...“
Sie trat beiseite. „Könnten wir das drin besprechen? Hier haben die Wände Ohren.“
Klaus und Dagmar folgten ihr durch einen schmalen Flur ins Wohnzimmer. Vor dem laufenden Fernseher war ein Bügelbrett aufgebaut. Auf dem Sofa lag ein Berg verknitterte Wäsche.
Klaus hatte einen Moment lang das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein. Er ging zum Fenster. Sein Blick fiel genau auf den Haupteingang der Bankfiliale. „Vor einer guten halben Stunde haben zwei maskierte Männer die Bank da unten überfallen. Haben Sie vielleicht irgendwas gesehen?“
Ayse Söngül zeigte auf den Fernseher und das Bügelbrett. „Leider nein. Ich war anderweitig beschäftigt.“
Klaus trat vom Fenster zurück. „Das war schon alles, was wir wissen wollten.“
„Ich habe Sie auf der Treppe mit meiner Nachbarin sprechen hören. Sie hat über mich hergezogen, oder?“
„Hat sie einen Grund dazu?“
„Das kommt ganz darauf an, was man unter einem Grund versteht“, sagte Ayse Söngül bitter. „Als ich siebzehn war, bin ich von zu Hause abgehauen, ich war drei Monate weg. Eine Jugenddummheit, die ich zutiefst bereue. Seitdem bin ich für meine Landsleute hier im Viertel die letzte Schlampe. Meine Lehre in einer Arztpraxis musste ich abbrechen, weil ich die Schikanen der türkischen Patientinnen nicht mehr aushalten konnte.“ Sie verzog das Gesicht. „Die Weiber sind die schlimmsten. Sie können sich nicht vorstellen, was die mir alles angedichtet haben: Ich sei in einem Bordell gewesen, schwanger geworden und hätte das Kind abgetrieben. Kein Wort davon ist wahr!“
„Und was sagen Ihre Eltern dazu?“, fragte Dagmar.
„Sie leiden schrecklich unter dem dummen Geschwätz. Deshalb tut mir das Ganze ja auch so leid. Dass ich trotzdem einen Ehemann gefunden habe, nehmen mir die Frauen besonders übel.“
„Ihr Mann ist Türke?“
Ayse Söngül nickte. „Er ist in Deutschland geboren und hat viele deutsche Freunde. Zum Glück ist er anders als die anderen. Wenn ich ihm sage, was im Haus wieder erzählt wird, lacht er bloß. Ich hoffe, dass wir bald eine andere Wohnung finden. Na ja, was soll’s. Sie haben bestimmt Wichtigeres zu tun, als meine Lebensgeschichte anzuhören.“
Zum Abschied lächelte Dagmar ihr aufmunternd zu. Als sie die Treppe hinuntergingen, wurde im dritten Stock rasch eine Wohnungstür zugezogen.
Kurz vor zehn kamen sie aufs Revier zurück. Auf der Wache diskutierte Dienststellenleiter Kissel mit Michael Stamm die Höhe des Verwarnungsgeldes bei widerrechtlichem Begrüßungshupen. Klaus und Dagmar gingen in den Sozialraum. Klaus schlug die Offenbach-Post auf, Dagmar packte zwei Frühstücksbrote aus. „Wenn du willst, kannst du eins haben.“
Klaus schüttelte den Kopf. Sie deutete auf die Zeitung. „Gibst du mir ein bisschen was ab?“
Klaus nahm den Sportteil heraus und schob ihr den Rest hin. Dagmar biss in ihr Brot und blätterte die Zeitung durch; Klaus vertiefte sich in einen Bericht über die zunehmende Kommerzialisierung des Profisports.
„Das glaube ich ja nicht!“, rief Dagmar.
Er sah auf. „Was denn?“
„Hör dir das an: Wegen seiner Intelligenz ist ein Bewerber für den Polizeidienst von der Stadt New London im US-Staat Connecticut abgelehnt worden. Die Begründung: Kandidaten, die zu intelligent sind, beginnen sich bald zu langweilen und quittieren dann trotz der kostspieligen Ausbildung den Dienst. Der mittlerweile 43-jährige Bewerber, ein früherer Student der Literaturwissenschaft, war bei einem Intelligenztest der Polizei auf 33 Punkte gekommen, was einem Intelligenzquotienten von 125 entspricht. Zum Bewerbungsgespräch eingeladen wurden aber nur Bewerber mit 20 bis 27 Punkten. Eine Klage des abgelehnten Bewerbers gegen den Ablehnungsgrund wurde verworfen. Das ist nicht zu fassen, oder?“
„Irgendwas wird schon dran
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