Die Wassermuehle
Kram bloß merken?“
„Ich verehre Monet und sein Werk, insbesondere seine späteren Arbeiten. Während meiner Zeit an der Côte d’Azur habe ich vergeblich versucht, die kühne Farbgebung seiner Südfrankreichbilder zu kopieren.“
Hedi zeigte auf die Blumenwiese. „Anscheinend ist es dir inzwischen gelungen. Wenn ich an unseren Kunstunterricht denke, meine ich mich allerdings zu erinnern, dass man auf Monets Gemälden etwas erkennen konnte.“
„Je älter er wurde, desto stärker löste er sich vom Gegenständlichen. Er wollte das Licht malen, den Augenblick einfangen. Seine Seerosen zeigen, was es bedeutet, wenn die Oberfläche eines Gemäldes atmen kann.“
„Wie, bitte, atmet ein Bild?“
Vivienne lächelte. „Monet unterschied Hunderte verschiedener Stimmungen, und er weigerte sich, mit dem Malen fortzufahren, sobald ein bestimmter Zustand des Lichts wechselte. Er baute Dutzende von Leinwänden an einem einzigen Ort auf, um sie der Reihe nach zu bearbeiten, sobald sich die Lichtverhältnisse nur geringfügig änderten. Je nach Wetterlage geschah das manchmal innerhalb weniger Minuten. Die breiten Ränder seiner gebrochenen Pinselschwünge fingen später das Licht der Räume ein, in denen seine Bilder ausgestellt wurden. Abhängig vom Standpunkt des Betrachters kann daher jedes seiner Werke als reine Malerei oder auch als reine Illusion betrachtet werden. Das Gleiche strebe ich bei meinen Arbeiten an.“
„Warum malst du dann bei Kunstlicht im Atelier?“
„Wichtig ist nicht der äußere, sondern der innere Standpunkt: Aller innerer Sinn ist Sinn für Sinn. Denn das Äußere, die Natur, bleibt uns im Grunde unbegreiflich in ihrem Sterben und Werden. Acherontisches Frösteln ergreift uns, auch wenn wir glauben, noch auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen.“
„Soll das heißen, dass Monet an seinem Seerosenteich Gänsehaut bekam?“
Vivienne lächelte. „Der Acheron ist ein Fluss in der griechischen Mythologie.“
„Mhm. Ich gehe dann mal töpfern.“
„Wir bewegen uns in einem fiktiven Raum, aber die Kraft der Kunst ist nicht Surrogat, sondern ein Stück unseres geistigen Seins. Auch das versuche ich, mit meinen Bildern auszudrücken. Schau nach draußen! Der Kreislauf der Natur, der die Mühle treibt, wird dem Menschen zum Lauf im Kreise.“
„Ach was, da treibt längst nichts mehr. Das Mühlrad ist seit Jahrzehnten außer Betrieb.“
„Ich meine das sinnbildlich: Die Mühle als Archetypus unserer Existenz spiegelt den Kosmos des Daseins in seiner Seinsverfallenheit. Requiescat in pace.“
„Ich beginne zu ahnen, warum die Tapeten im Wohnzimmer schimmeln.“
„Du bist keinen Deut besser als deine Schwägerin!“
Hedi verzog das Gesicht. „Das ist aber spannend, Frau Belrot. Ich bin wirklich glücklich, Sie kennengelernt zu haben, Frau Belrot.“
Vivienne musste lachen. Sie tupfte einen leuchtend roten Fleck an den unteren Bildrand und trat einen Schritt zurück, um das Ergebnis zu begutachten. „Eine verfeinerte, erhabene Vision nimmt Gestalt an, ein Geist schwebt inmitten kunterbunter Reflexionen, und so, von Funken erleuchtet, werden spitze, bläuliche Flammen und geschwefelte Blitze zu Trugbildern der Landschaft. Ein unruhiger Traum von Glück stellt sich in der rosaroten Sanftheit der Dämmerung ein, steigt im gefärbten Dunst auf und vermischt sich unter dem vorüberziehenden Himmel.“
Hedi verdrehte die Augen. „Großer Gott! Denkst du dir das beim Meditieren aus?“
„Ein kleines Zitat aus den Anmerkungen von Gustave Geffroy, dem Freund und offiziellen Biografen von Claude Monet, zur Ausstellung in der Galerie Durand-Ruel im Mai 1891“, sagte Vivienne vergnügt. „Monet war imstande, eine unaufhörliche Flut wechselnder und miteinander verwandter Gefühle zu schaffen. Durch ihn nahm die Möglichkeit, die Poesie des Universums innerhalb eines umschriebenen Raumes zusammenzufassen, erstmals Gestalt an.“
„In Form von seinsverfallenen Mühlen?“
„Ich spreche von Monets Heuschobern.“
„Entschuldige.“
„Soll ich dir verraten, was Émile Zola 1868 über ihn schrieb?“
„Eigentlich wollte ich töpfern.“
„ Diejenigen Maler, die die Zeit, in der sie leben, aus der Tiefe ihrer Herzen und ihrer Seelen als Künstler lieben, nehmen alltägliche Realitäten anders wahr. Vor allem bemühen sie sich, in die genaue Bedeutung der Dinge einzudringen. Nicht zufrieden mit dem lächerlichen trompe-l ' œil, deuten sie ihr Zeitalter als Menschen, die fühlen,
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