Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
wehrte sich, doch schließlich verlor er das Bewusstsein.
Auf Knien kroch sie in ihr Zimmer und setzte sich mit dem Rücken an die Wand. Sie atmete tief ein und aus, um sich zu sammeln. Aber selbst, als die Anspannung nachließ, raste sie innerlich vor Wut, eine Wut, die vornehmlich ihr selbst galt – weil sie die Robbins-Brüder unterschätzt hatte, weil sie sich hatte überrumpeln lassen. Beruhige dich , dachte sie. Das Schlimmste ist vorbei .
Da klingelte es.
Mühsam erhob sich Ava. Sie hatte keine Ahnung, wer es sein könnte, doch sie würde nicht für jeden öffnen. Sie linste durch den Spion. Ein junger Mann im hellblauen Pyjama stand mit besorgtem Gesicht vor der Tür.
»Hallo«, sagte sie durch die Tür, und ihre Stimme klang immer noch rau vor Aufregung.
»Ich wohne im Appartement nebenan. Ist bei Ihnen alles in Ordnung? Ich habe schrecklichen Lärm gehört und war kurz davor, Hilfe zu holen«, sagte er, und die Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Bitte nicht«, bat Ava. »Mein Mann ist Epileptiker. Er hatte einen Anfall, das ist alles. Es war schlimm, sogar für seine Verhältnisse, jetzt geht es ihm zum Glück wieder gut. Es wäre ihm furchtbar unangenehm, wenn ihn Fremde so sehen würden.«
»Er war unglaublich laut.«
»Er ist sehr kräftig gebaut und gegen die Wand gekracht. Nun ist es vorbei. Bitte glauben Sie mir, es wird keine Schwierigkeiten mehr geben.«
Sie betrachtete ihn durch das Guckloch. Er sah zumindest teilweise überzeugt aus. »Vielen Dank, ich weiß Ihre Anteilnahme zu schätzen«, fügte sie hinzu.
Er trat zwei Schritte zurück und drehte sich um, als erwarte er, dass sich noch andere beschwerten. »Okay, kein Problem. Wie gesagt, ich wohne nebenan, Nummer 310. Wenn Sie etwas brauchen, geben Sie Bescheid.«
»Nochmals vielen Dank«, sagte Ava und schaute ihm nach, während er sich langsam entfernte und einen letzten Blick zur Tür warf.
Sie seufzte tief und drehte sich um. Das Appartement war ein Schlachtfeld. Der Boden war teilweise blutverschmiert, und dort, wo Robbins mit ihr gegen die Trockenbauwand geprallt war, klaffte ein Loch. Zudem war irgendwann während des Kampfes der Couchtisch zu Bruch gegangen: Zwei Beine waren abgebrochen. Aufzuräumen wäre sinnlos. Robbins lag auf dem Boden und Seto im Bett, und beide würden sich nicht vom Fleck rühren. Sie hatte Wichtigeres zu tun und wenig Zeit.
Sie musste über Robbins hinwegsteigen, um in sein Zimmer zu gelangen. Auf der Kommode lagen eine Pistole und ein Polizeiabzeichen. Er war Sergeant und anscheinend noch im Dienst. Wahrscheinlich hatte er der Waffe wegen in sein Zimmer kriechen wollen. Ihr Handy lag in der obersten Schublade auf ein paar riesigen Unterhosen. Sie schaltete es ein und ging damit in ihr Schlafzimmer, dann nahm sie ihr Notizbuch, einen Kuli und drei Beutel Starbuck’s-Instantkaffee aus der Tasche. Laut ihrer Uhr war es zwanzig vor sieben. Sie brauchte ihren Morgenkaffee und musste nachdenken. Es war noch früh, aber für Avas Geschmack war das genug Drama für einen Tag.
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S ie stand am Herd und wartete darauf, dass das Wasser zu kochen anfing, eine alltägliche Routine, die beruhigend auf sie wirkte. Mit dem Kaffee in der Hand trat sie auf den Balkon hinaus, bald würden die Sonnenstrahlen ihn erreichen. Gerade als sie sich vorstellte, wie angenehm das wäre, drang die Ouvertüre aus Wilhelm Tell aus der Küche. Sie steckte den Kopf ins Zimmer und starrte Robbins’ Handy an, bis es verstummte. Es war nur ein kurzer Aufschub, das wusste sie. Bald würde Captain Robbins erneut anrufen, und bis dahin musste sie auf das Gespräch mit ihm vorbereitet sein.
Sie setzte sich auf einen Stuhl und legte die Beine auf das Geländer. Wenn sie die Hosenbeine hochzog, würden sich bestimmt bereits blaue Flecke zeigen. Was für ein Chaos , dachte sie. Was für eine gottverdammte Katastrophe. Wann hatte sie das letzte Mal eine Situation derart falsch eingeschätzt? Warum hatte sie Robbins das Geld nicht einfach überwiesen, um dieses Durcheinander zu vermeiden? Weil es nicht ihre Art war, so leicht aufzugeben, außerdem hatte sie nicht geglaubt, dass er seinen Teil der Abmachung einhalten würde. Und warum hatte er ihr keine zweite Chance gegeben, ihm das Geld ohne all die unnötige Gewalt zu überweisen? Weil das nicht seine Art war, dachte sie wieder, er musste sie verletzen, um ihr seine Überlegenheit zu demonstrieren.
Ava trank den Kaffee aus und ging zurück in die Küche, um sich einen
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