Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
wollen. Wenn Sie sich mehr Zeit verschaffen müssen, tun Sie’s. Ich habe das Geld gefunden und versuche, es zurückzuholen. Verstehen Sie? Ich mache Ihnen keine Versprechungen und kann Ihnen keinen zeitlichen Rahmen nennen.«
»Ich kann nur sagen, wir glauben an Sie.«
Sie seufzte. »Sie meinen, Sie haben keine andere Wahl, als an mich zu glauben. Das ist ein Unterschied. Sie kennen mich kaum. Ich halte nicht viel von blindem Vertrauen, das ist auch der Grund, warum Sie nichts von mir gehört haben. Genau deshalb werden Sie nichts mehr von mir hören, bis ich das Geld habe oder es unwiederbringlich verloren ist. Deshalb dürfen Sie mich unter keinen Umständen noch einmal anrufen. Ist das klar?«
»Ja«, sagte er.
»Eine Bitte hätte ich noch. Ich wollte es eigentlich Onkel ausrichten, aber – da wir schon miteinander sprechen – ich brauche Ihre Bankverbindung. Falls ich das Geld wiederbeschaffen kann, wäre eine Überweisung der beste Weg. Also mailen Sie mir bitte Ihre Daten. Ich brauche den Namen und die Anschrift der Bank, die Kontonummer und -anschrift, die IBAN der Bank und Ihre SWIFT .«
»Ich kann sie Ihnen noch heute schicken.«
»Morgen reicht völlig.«
»Darf ich fragen, wo das Geld sich befindet?«
»Ich rufe Sie an, sobald ich verlässliche Informationen habe. Bis dahin versuchen Sie sich zu entspannen.« Ava legte auf.
Es gab Zeiten, in denen Ava sich für die Vorgehensweisen verabscheute, zu denen sie gezwungen war. Tam war ein netter Kerl; er wollte nur tröstliche Neuigkeiten hören. Sie musste lernen, dass verzweifelte Klienten – und verzweifelt waren sie alle – nur hörten, was sie hören wollten. Ein Hoffnungsschimmer wurde zur beschlossenen Sache. Und wenn sie einmal nicht halten konnte, was sie versprach, war sie plötzlich die Böse, eine Betrügerin und Lügnerin.
Zurück im Hotel packte Ava ihre Tasche und bereitete sich auf die Fahrt zum Flughafen vor. Ihre Reiseberaterin hatte ihr ein Zimmer im Hilton in Port of Spain und im Phoenix in Georgetown gebucht und die hoteleigenen Limousinen bestellt, die sie nach der Landung abholen würden.
Ava lächelte, als sie ihre Kommentare über das Phoenix las: Es hat bloß drei Sterne, aber alle anderen Hotels haben nur ein oder zwei. Was ist das für ein Land? Ihr Lächeln verschwand, als sie die nächsten Sätze sah: Alle Reiseführer mahnen in Georgetown zu extremer Vorsicht. Allein unterwegs zu sein gilt, selbst am Tag, als extrem gefährlich.
15
P ünktlich um neunzehn Uhr landete Ava in Port of Spain. Es war bereits dunkel. Trinidad liegt im südlichsten Teil der Karibik, wo die Sonne 52 Wochen im Jahr um achtzehn Uhr hinter einer im Westen gelegenen Gebirgskette verschwand. Vom Flugzeug aus hatte die beleuchtete Stadt größer ausgesehen, und Ava vermutete, dass sie aus der Luft auch hübscher war als aus der Nähe.
Sie brachte die Einwanderungsbehörde, den Zoll und die Gepäckausgabe hinter sich und trat ins Freie, wo die Luft ebenso schwül wie in Thailand und darüber hinaus von merkwürdigen Gerüchen erfüllt war. Verrottendes Laub. Tote Vögel. Hundekot. Abgase. Ava konnte es nicht genau einordnen, doch ihr wurde beinahe schlecht. Als sie durch das Ankunftsgate ging, sah sie einen großen Schwarzen vor dem Lincoln Continental Hotel am Straßenrand stehen. Er hielt ein Schild mit ihrem Namen. Sie winkte, und er öffnete die Tür einer Limousine, damit sie einsteigen konnte.
»Ziemlich strenger Geruch«, sagte sie.
»Hauptsächlich verfaultes Laub«, gab er zurück.
Genauer wollte sie es nicht wissen. »Wie weit ist es zum Hotel?«
»Etwa eine halbe Stunde.«
Dieses Mal hatte sie nicht während des gesamten Fluges geschlafen, sondern nur acht Stunden auf dem Weg nach New York. Sie war müde, was gut war, denn so konnte sie sich früh schlafen legen und würde am nächsten Tag ausgeruht sein.
»Sind Sie geschäftlich hier, oder machen Sie Urlaub?«, wollte der Fahrer wissen.
»Geschäftlich.«
»Bleiben Sie lange?«
»Nur eine Nacht. Morgen gehts weiter nach Guyana.«
»Guyana. Ein … Irrenhaus«, antwortete er.
»Schon mal da gewesen?«
»Nicht nötig. Man hört Geschichten – und davon gibts ne Menge. Nichts funktioniert. Man kann niemandem trauen. Abends kann man nicht mal mit ner Zehn-Dollar-Uhr am Handgelenk vor die Tür gehen. Hier gibts auch Guyaner, die mit Koffern voller Shrimps von Hotel zu Hotel und von Restaurant zu Restaurant ziehen, um sie zu verscherbeln. Als ob der Chefkoch des
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