Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
bekamen Plätze zugewiesen, wo sie ihr mitleiderregendes Schauspiel abziehen konnten, anschließend wanderte die Hälfte ihrer Einkünfte in die Taschen der Polizei. Es gab keine Bar in der Stadt, die nicht in den Pensionsfonds der Polizei einzahlte, keinen gestohlenen Wagen, der am Ende nicht von einem Sonderkommando der Polizei verhökert oder ausgeschlachtet wurde. Das Geld floss nach etabliertem, kontrolliertem Muster stromaufwärts.
Trotzdem liebte Ava Thailand. Organisierte Korruption war immer noch besser als chaotische. Das war auch der Grund, warum es Onkel geflissentlich vermied, Geschäfte in Ländern wie den Philippinen, Indien oder Teilen Chinas zu machen.
Zurück auf ihrem Zimmer schaltete sie den Computer ein und informierte sich über Guyana. Es war Neuland für sie: einer der wenigen Orte auf der Welt, wohin Onkels ausgedehntes Netzwerk von Beziehungen nicht reichte. Schnell stellte sich heraus, dass Antonelli kaum übertrieben hatte. Das Land – offiziell die Kooperative Republik Guyana – hatte etwa 800 000 Einwohner, und die meisten davon drängten sich an der sechzig Kilometer langen Küste. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen betrug weniger als 1 200 Dollar, was dem Land Platz 155 in der Weltrangliste einbrachte; von den meisten Ländern, die darunter lagen, hatte Ava noch nie gehört.
Nur eine Handvoll Airlines flog den Flughafen von Guyana an. Es gab keinen Personennahverkehr, aber dafür ein achttausend Kilometer umfassendes Straßennetz, das allerdings nur auf knapp sechshundert Kilometern asphaltiert war, und selbst dort schien es ebenso viele Schlaglöcher wie Asphalt zu geben. Ein dieselbetriebenes Stromversorgungsnetz deckte nur sechzig Prozent des Bedarfs; Stromausfälle waren an der Tagesordnung. Sie notierte sich, eine Taschenlampe zu besorgen. Auch die Wasserqualität war zweifelhaft. Sie setzte Wasseraufbereitungstabletten mit auf die Liste.
Die Bevölkerung bestand hauptsächlich aus Ostindern, den Nachfahren von Bediensteten der Kolonialherren aus dem vormaligen Britisch-Indien. Einen weiteren wichtigen Anteil machten die Nachfahren afrikanischer Sklaven aus. Es gab eine lange Geschichte von Feindseligkeiten zwischen den beiden Gruppen. Der Rest bestand aus Nachkommen der ursprünglichen Karibenindianern, einer winzigen Gruppe Europäer und einer kleinen Gruppe Chinesen. Das Land hatte eine erschreckend hohe Kriminalitätsrate, konnte sich jedoch eines der höchsten Holzgebäude der Welt, der anglikanischen Kathedrale, rühmen.
Alles in allem nicht unbedingt ein Urlaubsparadies.
Ava rief beim Concierge an und fragte, wo man am besten eine Taschenlampe und Wasseraufbereitungstabletten kaufen könnte. Er antwortete, im CentralWorld würde sie alles bekommen, was sie brauchte.
Dieses lag schräg gegenüber dem Erawan-Schrein, fünf Gehminuten vom Hotel entfernt. Das Einkaufszentrum ist mit acht Stockwerken und mehr als einer halben Million Quadratmetern Einkaufsfläche das drittgrößte der Welt. Ava fand erst nach halbstündiger Odyssee, was sie suchte.
Danach aß sie gleich dort, um ihre erste, komplett thailändische Mahlzeit seit ihrer Ankunft zu sich zu nehmen. Kaum hatte sie bestellt, klingelte ihr Handy. Unterdrückte Nummer, doch sie nahm den Anruf trotzdem an, denn nur wenige Leute hatten ihre Nummer.
»Ava, hier spricht Andrew Tam.« Er klang nervös. »Mein Onkel hat Ihren Onkel nicht erreicht. Er will unbedingt wissen, wie es vorangeht.«
»Andrew, bitte sagen Sie Ihrem Onkel, dass ich meinem Onkel nicht tagtäglich Bericht erstatte, wenn ich an einem Fall arbeite. Wie gesagt: Sobald ich etwas zu berichten habe, rufe ich Sie an.«
»Es wird langsam eng. Ich stehe unter enormem Druck von meiner Familie. Und nächste Woche habe ich einen Termin bei der Bank, man wird mir unangenehme Fragen stellen. Ich bin kein guter Lügner.«
»Also geht es um Sie, nicht um Ihren Onkel.«
»Ich mache mir Sorgen.«
»Andrew, ich habe das Geld lokalisiert, und jetzt muss ich es zurückholen. Das klingt leichter, als es vielleicht ist, deshalb habe ich Sie nicht angerufen. Bis ich das Geld habe, stehe ich mit leeren Händen da, genau wie Sie.«
»Sie haben es gefunden!«, sagte er. Er stürzte sich auf die gute Nachricht und ignorierte die Warnung.
»Ja.«
»Fantastisch.«
»Erst, wenn ich es habe.«
»Aber es ist doch ein großartiger Anfang, nicht? Ich meine …«
»Andrew, nein«, unterbrach sie ihn. »Hören Sie, sagen Sie der Bank und Ihrem Onkel, was Sie
Weitere Kostenlose Bücher