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Die Weimarer Republik

Die Weimarer Republik

Titel: Die Weimarer Republik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Mai
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«sofortige» Sozialisierung der dazu «reifen» Industriezweige beschlossen und eine Kommission aus Sachverständigen eingesetzt, vor allem Vertreter der bürgerlichen Sozialreform. Aufgabe der Kommission war es jedoch, «unvernünftige Experimente» zu verhindern. Mangels politischer Rückendeckung legte sie am 7. April ihren Auftrag nieder. Eine zweite Kommission blieb 1920 ebenso erfolglos. Unter dem Druck von Räte- und Streikbewegung erließ die Nationalversammlung ein Sozialisierungsrahmengesetz sowie Sozialisierungsgesetze für den Kohle- und Kalibergbau wie für die Elektrizitätswirtschaft, die aber eines Ausführungsgesetzes bedurften. Die MSPD betrieb die Sozialisierung zu keiner Zeit ernsthaft, da sie befürchtete, dadurch das Land «in eine gefährliche Wirtschaftskrise» hineinzutreiben und «russische Zustände» herbeizuführen. Die MSPD und selbst Teile der USPD hielten die Sozialisierungsforderungen auch theoretisch für nicht plausibel: Sie sei nur im Stadium des Überflusses, nicht der Verarmung verantwortbar. Und (das mochte ein Vorwand sein) sie hätte den Alliierten einen Zugriff z.B. auf die Kohlengruben eröffnen können. Vor allem aber hatten weder SPD noch Gewerkschaften konkrete Vorstellungen, was Sozialisierung – eine ihrer traditionellen Forderungen – bedeuten solle: Verstaatlichung oder Vergesellschaftung? Enteignung mit oder ohne Entschädigung? In der Verfassung blieb somit nur die unverbindliche Formel der «Gemeinwirtschaft» übrig.
    Wenn es den Notwendigkeiten des Kapitalismus entsprach, dass Wachstumsschwankungen und deren Begleiterscheinungen durch staatliche Intervention ausgeglichen wurden, dass Staat, Interessenverbände und Parlamente in einen stetigen Aushandlungsprozess eintraten, dann bot Art. 165 der Verfassung die Handhabe für die Verankerung eines «organisierten Kapitalismus» (Rudolf Hilferding). Obwohl angesichts der Unruhen verfassungsrechtlich mehr möglich gewesen wäre, ließ die MSPD die Chance zu einer grundlegenden Umgestaltung der Wirtschafts-und Eigentumsverfassung verstreichen. Das Betriebsrätegesetz von 1920 verankerte immerhin rudimentäre Mitbestimmungsrechte auf betrieblicher Ebene, aber die staatliche Zwangsschlichtung war mehr Einschränkung als Bestandsgarantie der Tariffreiheit. Die institutionellen Organisationsformen des sich ankündigenden Sozialstaates waren noch nicht gefunden: das Mischungsverhältnis von staatlichen, halbstaatlichen, selbstverwalteten und marktorientierten Elementen.
    Erst im Gefolge des Kapp-Putsches von 1920 kam es zu dem, was SPD und Gewerkschaften vorgeschwebt hatte: der Grundlegung des Sozialstaates. Die vorläufigen Regelungen der Demobilmachung mussten jetzt in ordentliche Gesetzgebung umgewandelt werden. Das war vor allem das Verdienst des Zentrums-Sozialpolitikers Heinrich Brauns. Aufgrund der Verzögerungstaktik der Unternehmerseite, der beginnenden Inflation sowie sorgfältiger Detailarbeit konnten die Neuregelungen erst 1923 in Kraft treten. Das war, wie der Widerstand der Arbeitgeber zeigte, ein Stück «stiller Revolution». Aber die Reformen kamen zu spät, um der Radikalisierung der Arbeiterschaft entgegenzuwirken, um die Macht der Unternehmer zu begrenzen und um der SPD die benötigten Erfolge zu verschaffen.
3. Die Abwicklung des Krieges
    Eine der größten Herausforderungen, denen sich die Nachkriegsregierungen gegenübersahen, war die Demobilmachung. Das bedeutete nicht nur die Rückführung der acht Mio. Soldaten. Infolge der Eingriffe in den Arbeitsmarkt, der Produktions- und Rohstofflenkung und der Bewirtschaftung der Nahrungsmittel musste eine ganze Volkswirtschaft demobilisiert werden. Bei Kriegsende lag die industrielle Produktion bei 60 % von 1913; zwei Drittel davon waren in die Kriegsproduktion geflossen. Die agrarische Produktion lag bei 70 % von 1913, die schon damals den Bedarf nicht gedeckt hatte. 2,4 Mio. Männer (18,5 % der 13,2 Mio. Eingezogenen) waren gefallen, die 0,6 Mio. Witwen und 1,2 Mio. Waisen hinterließen. Zu versorgen waren 4,75 Mio. Verwundete, darunter 2,7 Mio. Invaliden.Ein weiteres Zehntel der Bevölkerung ging durch Gebietsabtretungen im Friedensvertrag verloren. Verstärkt durch das kriegsbedingte Geburtendefizit, sank die Bevölkerung des Reiches auf 63,18 Mio.
    Der Waffenstillstand zwang zur raschen Demobilmachung der Mannschaften. Daher konnte deren Entlassung nicht mit der Reorganisation des Arbeitsmarktes koordiniert werden. Es drohte Arbeitslosigkeit

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