Die Weimarer Republik
größeren Ausmaßes in politisch schwieriger Zeit. Da viele Kriegsmaßnahmen zur Steuerung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt mit Kriegsende automatisch ausliefen, fehlte der Regierung das geeignete Instrumentarium. Es begann das Regime per Notverordnung. Um die Soldaten schnell unterzubringen, wurde ihnen das Recht auf den alten Arbeitsplatz zuerkannt. Die Arbeitgeber mussten die Arbeitsplätze durch Entlassungen vor allem der im Kriege an die Stelle der eingezogenen Männer gerückten Frauen und Jugendlichen frei machen oder doppelt besetzen. Die Arbeitskräfte, die aus Friedensindustrien oder der Landwirtschaft in die Rüstungsindustrie umgesetzt worden waren, konnten jedoch nicht an ihre Arbeitsplätze zurückkehren, da diese im Krieg vernichtet oder infolge Rohstoff- und Kreditmangels noch nicht wieder eingerichtet worden waren.
Im Februar 1919 war der Höhepunkt der Krise auf dem Arbeitsmarkt erreicht. Heeresaufträge, die zur Nachfragebelebung eingeplant waren, entfielen wegen der alliierten Auflagen. Bauindustrie und Landwirtschaft lagen wegen des harten Winters brach. Kohle- und Rohstoffmangel sowie ausbleibende Nachfrage kamen hinzu. Die Regierung griff daher zu neuen Mitteln: Die Konversion von Rüstungsbetrieben, die Reparatur der Transportmittel, Notstandsarbeiten, «produktive Erwerbslosenfürsorge», Aufblähung des Personals bei Eisenbahn und Post u. Ä. m. sollten die Binnenkonjunktur anregen. Trotz des bescheidenen Mitteleinsatzes setzte Anfang 1919 ein Konjunkturaufschwung ein. Finanziert werden konnte das nur durch Staatsverschuldung und Inflation. Angesichts der Kosten des Krieges kam es darauf aber nicht mehr an: «Mehraufwand, rechtzeitig eingesetzt, [ist] billiger als Folge von Unruhen und Umsturz.»
Die Dauerhaftigkeit der Krise – vier Jahre Krieg und sechs Jahre Nachkrieg – gruben sich tief in den Erfahrungshaushalt der Zeitgenossen ein. Diese Dekade war von einem fast ununterbrochenen Ernährungsmangel geprägt. In den unteren Einkommensschichten bestand seit 1915 Unterernährung. Gegen Kriegsende und in der Nachkriegszeit waren vor allem städtische Angestellte und Beamte betroffen. Selbst Facharbeiter, sogar die Bergleute, hungerten noch 1920/21. Die Folge waren steigende Unfallzahlen und Krankenziffern (Tbc) oder Anfälligkeit gegenüber der Grippe-Epidemie 1918/19, der weltweit mehr Menschen zum Opfer fielen als den Kriegsereignissen. Nicht nur einzelne Sozialgruppen, sondern die Mehrheit eines Volkes lebte jahrelang unterhalb oder am Rande des Existenzminimums. In der Hyperinflation von 1923 herrschten erneut Ernährungsverhältnisse wie im Krieg. Die existenzielle Bedrohung, die man zunächst in Tod oder Hunger sah, verschob sich zunehmend zum vermeintlichen oder tatsächlichen «sozialen Tod» ganzer Sozialgruppen durch Revolution, Bürgerkrieg und Inflation. Adel und Bildungsbürgertum, Bauern und Mittelstand mussten (wie in ganz Europa) einen Erfahrungsprozess durchleben, den die Arbeiterschaft, in Deutschland auch die Katholiken, vor 1914 erfahren hatten: drohende materielle Enteignung, politische Majorisierung, rechtliche Deprivilegierung und kulturelle Marginalisierung.
Die Siegermächte bauten 1920/21 ihre Staatsverschuldung durch Sparmaßnahmen, Steuererhöhungen und Aufwertung der Währungen ab, also durch Deflation, und stürzten in eine Wirtschaftskrise. Deutschland blieb davon auf Kosten weiterer Inflation verschont. Mit ihrer Hilfe wurde 1922 ein industrielles Produktionsniveau von 80 % des Vorkriegsstandes erreicht; im Zeichen der Hyperinflation brach es 1923 auf 40 % ein und stieg 1924 erneut auf 80 %. Hinzu kamen die Kosten des Friedensvertrages. Im Kriege hatten die Alliierten Patente oder Auslandsguthaben beschlagnahmt. Der Waffenstillstand forderte Sachlieferungen, z.B. Eisenbahnmaterial oder Zuchtvieh, die Goldreserven und die Handelsflotte; das Abtreten von 13 % des Vorkriegsterritoriums bedeutete den Verlust von 15 % desAckerlandes und 75 % der Eisenerzvorkommen. Die Produktionskapazitäten von Roheisen sanken um 44, die von Stahl um 38 und die von Kohle um 26 %. Für das Aufbringen der Reparationen waren Überschüsse in der Leistungsbilanz zu erwirtschaften. Eine Steigerung der Exporte setzte nicht nur den Import von Rohstoffen voraus, sondern auch den Zugang zu Auslandsmärkten, den die Alliierten zugunsten der eigenen Wirtschaft dem Reich zu versperren suchten. Um konkurrenzfähig zu bleiben, hätten im Reich die Lohnkosten gesenkt und der Konsum
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