Die Weimarer Republik
Russland waren gar zwei konkurrierende Großmächte ausgefallen. Das Reich verlor gut 13 % seines Territoriums, vor allem im Osten (Westpreußen, Posen, Danzig, Teile Oberschlesiens), dazu Elsass-Lothringen und Teile Schleswigs; das Saarland wurde auf 15 Jahre dem Völkerbund unterstellt. Damit verlor es zugleich Bevölkerung, Ackerland, industrielle Rohstoffe (Kohle) und Produktionskapazitäten (Eisen). Die Kolonien waren nur ein Statussymbol gewesen, allerdings das einer Welt- und nicht einer kontinentalen Großmacht. Und das Reich blieb ökonomisch eine Großmacht, trotz der Beschlagnahme der Auslandsguthaben oder der Handelsflotte und trotz der historisch neuen, umfangreichen Wirtschaftsbestimmungen. Die trugen der Tatsache Rechnung, dass dies der erste Massenkrieg zwischen industrialisierten Ländern unter Mobilisierung der gesamten Volkswirtschaften gewesen und dass ein moderner Krieg ohne industrielle Ressourcen nicht zu führen war. Doch viele Strafbestimmungen blieben dank britischer Fürsprache zeitlich begrenzt, um das Reich als Gegengewicht gegenFrankreich und Russland und als Handelspartner zu erhalten. Andere Auflagen – wie die einseitige Abrüstung, die der erste Schritt zu einer allgemeinen Rüstungsbeschränkung sein sollte – hätten ein Verhandlungsvorteil sein können.
Hinzu kam auf deutscher Seite der Schock der nicht verarbeiteten Niederlage – zumal die Hoffnung auf einen Ausgleichsfrieden bis zuletzt wach geblieben war. Doch es wurde ein «Diktatfrieden». Das Kabinett sah «die schlimmsten Erwartungen weit übertroffen»; die wirtschaftlichen Verpflichtungen seien «vollständig unerfüllbar». Der Entente wurde, bis in die SPD hinein, der Wille zur «ökonomischen Erdrosselung» des Reiches durch Abdrängung vom Weltmarkt unterstellt, die Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln. Reichskanzler Scheidemann erklärte den Vertrag für unannehmbar. Sein Kabinett, das je zur Hälfte für und gegen die Unterzeichnung votierte, trat zurück. Das neue Kabinett, geführt von Gustav Bauer (MSPD), erhielt ein Vertrauensvotum der Nationalversammlung für seine Auffassung, dass das Reich unter dem Druck des alliierten Ultimatums die Bedingungen annehmen müsse, ohne die Kriegsschuld anzuerkennen. Die Emotionen richteten sich weiter gegen die «entehrenden» Bestimmungen: die Auslieferung von 895 Personen, die wegen ihrer Verstöße «gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges» vor einem Militärgericht angeklagt werden sollten, darunter der Kaiser «wegen schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge»; dazu die Beschränkungen der Souveränität durch Heeresverminderung, das Verbot moderner Waffen und Rüstungskontrolle, die Besetzung und Entmilitarisierung des Rheinlandes; die Wegnahme der Kolonien, die mit «Deutschlands Versagen auf dem Gebiete der kolonialen Zivilisation» begründet wurde. Alles das bündelte sich in dem erbitterten Kampf gegen die «Kriegsschuldlüge» in Art. 231, die nur juristische Legitimation für die Reparationen mehr gegenüber Wilson als gegenüber Deutschland sein sollte. Erst die deutschen Proteste hatten dazu geführt, dass die Kriegsschuld als moralisches Verdikt formuliert worden war. Und Art. 232 dehnte die Wiedergutmachung auf die leiblichen Schäden der Kriegsteilnehmer und die Einkommensausfälleder Familien der Kriegstoten und -verwundeten aus – eine Forderung Englands, das nur geringe materielle Schäden erlitten hatte.
Mit dem Verbot des «Anschlusses» Deutsch-Österreichs erzwangen die Alliierten den Verzicht auf das Selbstbestimmungsrecht: weil Deutschland nicht nachträglich gestärkt aus der Niederlage hervorgehen durfte. 1921 wurde bei der Volksabstimmung in Oberschlesien das für Deutschland günstige Ergebnis manipuliert; Polen erhielt das Zentrum des Industriegebietes, um das Reich weiter zu schwächen. Die Volksabstimmung in Schleswig führte zur Teilung, die im Saarland wurde erst 1935 durchgeführt, nachdem Frankreich bis dahin die industriellen Ressourcen ausbeuten durfte.
Aber auch die Sieger weigerten sich, die neue Ordnung anzuerkennen. Neben Frankreich suchten besonders Polen, Italien und Rumänien die militärisch erzwungene Nachbesserung. Insofern war der europäische Krieg nicht am 11. November 1918 beendet, sondern dauerte regional allemal bis 1920.
Der deutsche Revisionismus hatte Varianten, die sich nach ihren Zielen (Gleichberechtigung oder Hegemonie) wie nach ihren
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