Die Weimarer Republik
«Schein der Normalität». Nach dem Höhepunkt der Krise im November 1923 trat fast unvermittelt eine Beruhigung ein. Die Stabilisierung von Währung und Wirtschaft gelang; bis 1928/29 stiegen Produktion und Realeinkommen wieder auf das Niveau von 1913. Eine Lösung der Reparationsfrage schien in Sicht, und das Reich kehrte in den Status einer europäischen Großmacht zurück. Dennoch: In diesen «Goldenen Jahren» erfolgte die eigentliche Destabilisierung der Republik.
Jetzt begann die industriegesellschaftliche (Um-)Gründung der Republik, indem der Industrie in der Wirtschaftspolitik Vorrangeingeräumt und der Ausbau des Sozialstaates in Angriff genommen wurde. Die Sozialpolitik wurde zum Instrument der staatlichen Umverteilung von gesellschaftlichen Ressourcen, der Steuerung volkswirtschaftlicher Prozesse, der Intervention in private Lebensführung und soziale Strukturen. Das Chaos der zehn Jahre von Krieg und Nachkrieg hatte alle Bedeutungen von Tradition und Konvention infrage gestellt. Der tradierte Wertekatalog verlor an Verbindlichkeit, die klassischen Formen der sozialen Kontrolle wurden aufgeweicht oder zerstört. Der Mythos der Jugend, das Leitbild der «neuen Frau», die «Amerikanisierung» von Massenkonsum und -unterhaltung waren Anzeichen des beginnenden fundamentalen Wandels von Einstellungen und Verhaltensweisen. Dieser Wandel war in seinen Anfängen zweifellos älter, hatte aber durch den Weltkrieg eine enorme Beschleunigung und Verbreitung gefunden: durch die hohe geographische Mobilität der Arbeitsbevölkerung im Krieg, die männerbündischen Lebensformen der Soldaten, das gewalthaft-heroische Selbstbild der Männer, die Quasi-Kasernierung der Rüstungsarbeiterinnen in den Ballungszentren, die Abwesenheit der Ehemänner und Väter von ihren Familien, die selbst geschaffenen politischen Freiräume der Räte- und Streikbewegungen, die Selbstversorgung durch Schwarzmarktgeschäfte oder Felddiebstahl. All das hatte ein neues Selbstbewusstsein entstehen lassen, das sich in eine politisch, sozial und kulturell zutiefst gespaltene Gesellschaft einordnen musste, obwohl doch gerade diese Zerklüftung die Freiräume entstehen ließ, in denen die veränderten Ansprüche gelebt werden konnten.
Im Zeichen vermeintlicher Konsolidierung wurde jener Neustrukturierungsprozess sichtbar, der zur unbewältigten Herausforderung werden sollte. Zwar setzte sich – außer bei den Agrariern – immer mehr die Erkenntnis durch, dass der Ausbau des industriekapitalistischen Sozialstaates unvermeidlich war, doch die Konflikte um die Sozial- und Wirtschaftspolitik wurden mit ähnlicher Erbitterung wie in den Jahren zuvor fortgesetzt. Die hohe Zahl der Arbeitskämpfe nach 1924 zeigte, dass die sozialen Konflikte unvermindert anhielten. Aber sie verlagerten sich auf ein anderes Feld: das Tarifrecht. Es ging weniger um Lohnprozenteals um gesellschaftspolitische Verteilungsentscheidungen. Wenn der realpolitische Flügel der Unternehmer 1926 der SPD und dem Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund die Kooperation anbot, dann um den Preis, dass diese den wirtschaftspolitischen Führungsanspruch der Unternehmer anerkannten und den Klassenkampf preisgaben. Darauf konnte die SPD angesichts der Konkurrenz durch die KPD nicht eingehen. Nur in der Schweiz war die Sozialistische Partei zu einem solchen Schritt 1927 bereit (die finnische in den 1930er-Jahren), die Gewerkschaften erst 1937. Der sich ausbildende Interventionsstaat, dem die Regulierung der Klassen- und Verteilungskonflikte zugekommen wäre, blieb für diese Aufgabe angesichts der politischen Spaltung der Gesellschaft und labiler Regierungen zu schwach. Er sah sich vielmehr Bestrebungen ausgesetzt, ihn zum Instrument dieser Klassenkämpfe zu machen.
Die ökonomischen und politischen Verteilungspositionen zwischen den sozialen Gruppen verschoben sich weiter. Doch angesichts der unüberbrückbaren Konflikte innerhalb des industriellen Sektors wuchsen die Chancen der Landwirtschaft, ihren Machtverlust in Grenzen zu halten. Denn die Industrie brauchte politische Partner gegen die Arbeiterschaft. Obwohl der Beitrag der Landwirtschaft zum Volkseinkommen mit 16 % fast schon marginal geworden war, verfügte sie mit knapp einem Drittel der Erwerbstätigen über ein gewichtiges Wählerpotential. Das wurde verstärkt durch die Gruppierungen, die sich gleichfalls als Verlierer des industriekapitalistischen Sozialstaates sahen: Das Handwerk, der Handel, die freien Berufe und die
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