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Die Weimarer Republik

Die Weimarer Republik

Titel: Die Weimarer Republik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Mai
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noch immer ein von den städtischen Sozialformen weitgehend geschiedener Lebensbereich mit kultureller Eigengesetzlichkeit. Die Stadt-Land-Differenz umfasste mehr als nur Siedlungs- und Wohnweisen, Arbeits- und Produktionsbedingungen, Familienformen oder Bildungschancen. Sie beruhte nicht zuletzt auf Unterschieden des Verhaltens und Denkens, des Wertens und Wünschens. Die wachsende infrastrukturelle Vernetzung zwischen Stadt und Land beschleunigte die Erosion dörflicher Strukturen und Kulturen durch externe Modernisierungsimpulse. Das Land übernahm die städtischen Entwicklungen mit einer Verzögerung von ein bis zwei Generationen. Saison- und Pendelwanderer importierten Versatzstücke der urbanen Kultur, nicht zuletzt die Dienstmädchen. Mit den an Parteien oder Kirchen gebundenen Landfrauenverbänden, mit Radio und Wanderkino, mit Fußball und Warenhauskatalogen, mit Elektrizität und landwirtschaftlichen Maschinen fasste die neue Welt schrittweise Fuß. Das Vordringen von Krämern, Bäckern oder Metzgern zeigte, dass sich der Selbstversorgungscharakter der Familien- und Hauswirtschaft auflöste. Die (partei-)politische Struktur der Dorfgemeinschaft veränderte sich; die Bedeutung von Besitz und (Alters-)Erfahrung, die über Generationen die Position in der Macht- und Ansehenshierarchie bestimmt hatte, nahm allmählich ab. Aber die industriekapitalistische Klassenstruktur fand hier nur bedingt ihre Entsprechungen, am ehesten noch in Gegenden mit agrarkapitalistischer Großlandwirtschaft und hohem Anteil vonTagelöhnern, Landarbeitern und lohnabhängigen Kleinstbesitzern. Dennoch konnten Landarbeitergewerkschaften kaum Fuß fassen, während Arbeiterbauern für die Arbeiterbewegung nur schwer zu erreichen waren.
    Im industriellurbanen Teil der Gesellschaft veränderten sich die Klassenbeziehungen. Doch endete damit keineswegs das auf Erfahrung gegründete Bewusstsein der den Klassen Zugehörigen. Die Aufwertung der Arbeiterschaft im Krieg, deren Ansprüche (zumindest) auf Gleichberechtigung in der Revolution, der Klassenkampfcharakter des Bürgerkriegs wie der Arbeitskämpfe verschärften dieses Bewusstsein eher noch. Die Arbeiter einte über alle internen Grenzen hinweg die Klassenerfahrung: vom Klassenhass bei den Kommunisten bis hin zur mehr oder minder starken «Abneigung» gegenüber den «besitzenden Kreisen» bei katholischen und christlichsozialen Arbeitern. Das Bürgertum einte, mehr als die Ideale und Praktiken von Bürgerlichkeit, der diametrale Gegensatz zur Arbeiterschaft, der – mit wenigen, erfolglosen Versuchen eines Brückenschlages – für unüberwindbar erachtet wurde. Die Unüberbrückbarkeit der Klassengegensätze, die sich in den Lagern des Parteiensystems widerspiegelte, resultierte aus der Verfestigung der ökonomischen Klassen in sozialmoralischen Milieus als relativ abgeschlossenen, sozial homogenen und organisatorisch verdichteten Werte- und Erfahrungsgemeinschaften. Die Zugehörigkeit wurde bestimmt durch gleichen Status (Arbeiter, Bürger), gleiche Lebensweisen (Familie, Wohnquartier), symbolische Praktiken (Kleidung, Habitus, Sprache, Feste), gleiche Wertvorstellungen (Ehre, Leistung, Bildung, Solidarität, Religion) und Weltdeutungen. Aus ihren je eigenen Vorstellungen von der gerechten Ordnung entwickelten sie ihre politischen Präferenzen. Je undurchlässiger die Klassenschranken und je fester die kollektive Lage durch Aus- und Abgrenzungserfahrung gefügt waren, desto ausgeprägter waren die Milieus.
    Doch Klassen und Milieus waren nicht identisch. Die größte relative Homogenität erreichten (Industrie-)Arbeiter und Bürger, die beiden Kerngruppen der industriegesellschaftlichen Moderne. Im bürgerlichen Lager wurde indes die Scheideliniezwischen Kernbürgertum und kleinbürgerlichem (altem wie neuem) Mittelstand nach 1918 eher noch schärfer gezogen. Ähnlich in der Arbeiterschaft zwischen Facharbeitern und Ungelernten, Arbeiterbauern, Saisonarbeitern oder Landarbeitern. Außer bei den Bauern und im Adel gab es nirgendwo so stark voneinander abgeschlossene Heiratskreise wie zwischen Facharbeitern, die ins Kleinbürgertum strebten, und Minderqualifizierten. Die Rationalisierung festigte die Arbeitsmarktposition der qualifizierten Facharbeiter und gewährte ihnen auch steigende Einkommen. Doch blieben die Aufstiegschancen über Schul- und Ausbildungssysteme in der republikanischen Zeit begrenzt. Beide – Bürger und Arbeiter – waren nicht nur kulturell, sondern auch

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