Die Weimarer Republik
politisch in sich tief gespalten: in Kommunisten und Sozialdemokraten die einen, in (Vernunft-)Republikaner und Republikgegner die anderen. Quer zu den Klassen lag das katholische Milieu.
Dennoch begannen die sozial-moralischen Milieus auf dem Höhepunkt ihrer Entfaltung und Verdichtung aufzubrechen. Das war in ganz Europa Begleitumstand einer seit 1900 zu beobachtenden Entwicklung, die durch den Krieg beschleunigt wurde. Am auffälligsten war die Erosion im proletarischen Milieu, das die organisierten Arbeiter von der Wiege bis zur Feuerbestattung in allen Lebensbereichen betreute. Der schleichende Beginn seiner Auflösung war nicht nur Folge der Spaltung in SPD und KPD wie ihrer Gewerkschaften und Massenorganisationen. Vor allem der um 1930 beklagte «Verlust der Jugend» an die neuen Verlockungen der Massenkultur lässt erkennen, dass sich seine Bindungswirkung abzuschwächen begann. Selbst die Älteren waren, allem Klassenkampfdenken und aller sozialistischen Aufklärungsarbeit zum Trotz, ideologisch keineswegs gefestigt, sondern vielfach autoritär geprägte «Wilhelminer»: privat wie politisch. Sie hielten wenig von der Gleichberechtigung der Frau oder einer Kindererziehung ohne Prügel, aber viel von Bismarck oder Napoleon. In Geschmacksfragen waren sie eher kleinbürgerlich-konservativ. Eine Arbeiterkultur im Sinne sozialistischer Lebensführung praktizierte nur eine geringe Zahl, auch nicht durchgängig die Kommunisten. Die Kultur derArbeiterbewegung war mehr Gegenentwurf als eine im Alltag gelebte Gegenwelt. Als Projekt machte sie gleichwohl die Klassenlinie zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft sichtbar und erfahrbar.
Die kirchengebundenen Arbeiter erreichte dieses Milieu nicht, obwohl 1924 knapp 20 % der katholischen Arbeiter Parteien der Linken wählten. Die Entkirchlichung setzte auch bei ihnen ein, wenngleich weniger ausgeprägt als bei den protestantischen. Das galt für das katholische Milieu insgesamt. Hatten 1881 über 86 % aller männlichen Katholiken Zentrum gewählt, so waren es zu Beginn der Weimarer Republik noch 60 % aller Katholiken, bei den Frauen und Kirchentreuen 69 %, 1928 wohl nur noch die Hälfte. Das katholische Milieu begann, unter dem Einfluss von Mobilität und Urbanisierung, sinkender sozialer Kontrolle und allgemeiner Säkularisierung ebenfalls seine Bindungswirkung einzubüßen.
Verdichtet wurde das bürgerliche Milieu. Gegen die Herausforderung der Arbeiterbewegung und der drohenden kulturellen Enteignung durch die Massenkultur zog es sich in den Turm seines lokalen Geflechts von Persönlichkeiten, Vereinen und Kommunikationsforen zurück. Trotz des von örtlichen Honoratioren organisierten Zusammenrückens von Kernbürgertum und Kleinbürgertum gegen die Linke blieb die soziokulturelle Scheidelinie zwischen beiden bestehen. Nach kurzlebiger Annäherung lockerte sich die Bindung des Kleinbürgertums an die traditionelle Honoratiorenelite wieder. Diese versuchte trotzig, ihre bürgerlich-nationale Deutungskultur, ihre Rituale, Symbole und Feiertage zu behaupten. Doch alle – durch Kriegsschuldlüge, Dolchstoßlegende oder Antibolschewismus schon im Ansatz entwerteten – Versuche, aus dieser Abwehrhaltung an dem Anspruch geistiger Führerschaft in einer nationalen Volksgemeinschaft festzuhalten, drängten sie immer stärker in die Isolation. Die extreme Rechte wurde, wenngleich zögernd, als Schutztruppe gegen den Bolschewismus in das «nationale» Lager einbezogen, aber die milieuführenden Honoratioren und Vereine erwiesen sich als unfähig, die radikalen Kräfte zu integrieren und damit zu kontrollieren. Die Auflösung der bürgerlichenMitte war nicht Ausdruck zufälliger personaler Konstellationen, sondern des Zerbrechens ganzer Lebenswelten und ihrer kulturellen Ordnungssysteme.
Auch das bürgerliche Milieu verlor seine Geschlossenheit durch den «Verlust der Jugend»: als «Empörung der Söhne gegen die Väter», gegen die überlange Dominanz einer nicht abtreten wollenden Generation der «Wilhelminer». Die 1920er-Jahre kannten eine Fülle politischer Generationsentwürfe, von denen der der Frontgeneration der einflussreichste war. Deren Forderung des absoluten Neuanfangs und deren Anspruch, die Vorhut einer neuen Welt zu sein, wurden in den Frontkämpfermythos übertragen, der erst um 1928/29 seine Blüte entfaltete: als Kampf um die Erinnerung des Weltkrieges und als Anspruch eines aus dem «Stahlbad» geborenen «neuen Geschlechts». Diesen Entwürfen,
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