Die Weimarer Republik
Frauen beinhaltete der Leitbildwandel die Perspektive selbstbestimmter Lebensführung.
Dieser Konflikt zwischen den Generationen wie zwischen den Geschlechtern wurde durchaus auch als Kulturkampf wahrgenommen: als Auflösung traditionaler Ordnungsmuster, Lebensformen und Wertvorstellungen. Das galt erst recht für die Künste, die schon vor 1914 die traditionalistische Konvention der Bildungseliten herausgefordert hatten: durch die Zerstörung von Form und Harmonie in Bild, Wort und Ton, durch die provozierende Relativierung des Wahren, Guten und Schönen, durch den subjektivistischen Individualismus. Jetzt schien die Außenseiterkultur der Avantgarde zum Repräsentanten des republikanischen Wert- und Kulturrelativismus aufzusteigen, zumal sie, oft nur vorübergehend, der politischen Linken zuneigte. Vergleichbares galt für die überall aufsprießenden, auf ältere Wurzeln zurückgreifenden Reformbewegungen: die Reformpädagogik, die Sexualreform, die Wohnreform, die Lebensreform allgemein. Sosehr diese Strömungen ein Indiz für den sich öffnenden Pluralismus der 1920er-Jahre sind, so wenig darf man ihren Einfluss überschätzen, wie es ihre Gegner taten. Sie mochten den öffentlichen Diskurs beherrschen, aber nicht die Institutionen, die Bastionen des Traditionalismus blieben. DieMehrheit der freien wie der akademischen Intellektuellen nutzte ihre etablierten Positionen wie die Unterstützung der Politik für einen teils erbittert geführten Kulturkampf gegen den «Kulturbolschewismus», für den die Vertreibung des Bauhauses aus Weimar 1925 ebenso stehen mag wie der jahrelange Kampf um das Kunstmuseum in der Erfurter Provinz. Als 1930 der Thüringer NS-Innen- und Volksbildungsminister Wilhelm Frick anordnete, 70 Werke der Avantgarde im Weimarer Schlossmuseum abzuhängen, und Verordnungen «wider die Negerkultur» erließ, gab das einen Vorgeschmack auf die spätere Denunziation als «entartete Kunst».
Doch die viel gerühmte Vielfalt des kulturellen Lebens in der Weimarer Republik war auch ein Zeichen der Orientierungslosigkeit, der oft rast- und ratlosen Suche nach neuer Ordnung, nach Sinnstiftung in dem «seelenlosen» technischen Zeitalter. Die Aufbruchstimmung 1918 war bald der Ernüchterung gewichen. Die Hinwendung zur «Neuen Sachlichkeit» Mitte der 1920er-Jahre war ebenso ein Anzeichen der Resignation wie die Flucht in die bittere Satire oder in die Esoterik und das Ekstatische. Auch die Avantgarde blieb eine elitäre Kunst; die Reformbewegungen kamen letztlich über eine Nischenexistenz nicht hinaus. Das Experiment setzte sich mit wenigen Ausnahmen nicht gegen den mächtigen Kanon durch. Es signalisierte die Chance auf Pluralität und individuelle Entfaltung, blieb aber in der Breitenwirkung unverbindlich. Was von den einen als Freiheit empfunden (bzw. erhofft) wurde, erschien den anderen als Freisetzung, als Infragestellung nicht nur der ästhetischen, sondern auch der ethischen Gewissheiten. Auf dieser Ebene spiegelte die Kunst durchaus die politische Kultur der Republik wider. Belastungen war diese von Enttäuschung und Hoffnung geprägte Suche nach neuen Orientierungen nicht gewachsen. Dafür fehlte die Verankerung in den Lebenswelten. Nicht nur Erich Fromm spitzte das Ergebnis seiner Untersuchungen von 1929/30 auf die Formel «Flucht aus der Freiheit» zu; sondern auch die Exil-SPD brachte das Verhalten ihrer Klientel nach 1933 auf den Nenner, diese habe die Sicherheit der Freiheit vorgezogen.
4. Der zweite Frieden: Vom Locarno-Vertrag zum Young-Plan
Es war das Verdienst des langjährigen Außenministers Stresemann, dass die Republik wieder in den Kreis der europäischen Großmächte aufstieg. Nach dem Ruhrkampf war infolge der Intervention der USA und des allgemeinen Bedürfnisses nach Stabilisierung die Gesamtlage ausgesprochen günstig; aber Stresemann war es zu verdanken, dass es innenpolitisch gelang, eine realistische Außenpolitik durchzusetzen. Zu Recht spricht man von der Ära Stresemann, denn die äußere Entspannung kam der innenpolitischen zugute. Noch im Kriege ein Annexionist, hatte Stresemann sich zum Vernunftrepublikaner gewandelt, dessen Orientierung an Staatsräson und Nation von der Staatsform zu abstrahieren wusste. Seit der Kooperation im Weltkrieg zur Durchsetzung der Parlamentarisierung mit den Parteien und Parteiführern der Weimarer Republik auf gutem Fuße, besaß er zugleich gute Verbindungen zur Industrie und war – anders als Erzberger oder Rathenau – auch für
Weitere Kostenlose Bücher