Die Weimarer Republik
1,8 Mio. «unsichtbaren» Arbeitslosen: «nicht bedürftige» Ehefrauen, versicherungsrechtlich Ausgesteuerte, nicht in den Arbeitsmarkt eingetretene Jugendliche, Arbeitnehmer, die über 60 Jahre alt waren, oder sonstige nicht Anspruchsberechtigte. Einschließlich der Familienangehörigen waren im Herbst 1932 23,3 Mio. Menschen, also 36 % der Bevölkerung, auf öffentliche Unterstützungsleistungen angewiesen.
Diese Leistungen waren schmal genug. Die Erwerbslosen, die Anspruch auf staatliche Leistungen hatten, erhielten bestenfalls eine Unterstützung für 26 Wochen; die Sätze erreichten ein Drittel bis drei Viertel des früheren Erwerbseinkommens. Danach bestand ein Anspruch auf maximal 13 Wochen «Krisenunterstützung»; waren die verbraucht, wurden die Betroffenen als «Wohlfahrtserwerbslose» der allgemeinen Fürsorge zugewiesen. 1931 und 1932 wurden die Unterstützungsleistungen wiederholt abgesenkt und zeitlich begrenzt. Durch diese Anspruchsbegrenzung ging die Zahl der unterstützten Arbeitslosen nach dem Höhepunkt von 2,59 Mio. im Februar 1931 bis zum Januar 1933 auf 0,95 Mio. zurück. In der Zeit der größten Not erzielte die Arbeitslosenversicherung Überschüsse; der von 1931/32 hätte für zusätzliche 0,75 Mio. Bedürftige gereicht. Von den 6 Mio. Arbeitslosen im Januar 1933 wurden nur 15,8 % von der Reichsanstalt unterstützt, 23,6 % empfingen Krisenunterstützung, 40,9 % waren Wohlfahrtserwerbslose, 19,7 % bezogen gar keine Leistungen.
Die Unterstützungssätze deckten bereits seit 1931 vielfach nicht mehr das Existenzminimum ab. Die Leistungen der Krisenfürsorge waren zuletzt so bemessen, dass sie neben der Miete nur noch für den Kauf der Grundnahrungsmittel reichten. Im Winter 1932/33 hatten geschätzte 15 Mio. Menschen nicht genug zu essen und waren auf öffentliche Armenspeisung angewiesen. Etwa eine halbe Million Menschen verloren ihre Wohnung und lebten in Obdachlosensiedlungen und Laubenkolonienoder auf Wanderschaft. Dementsprechend erfuhren die Geschäfte für Lebensmittel einen Umsatzrückgang von einem Drittel, die für Schuhe, Textilien oder Möbel bis zur Hälfte. Die Landwirtschaft litt unter Umsatzeinbrüchen bei höherwertigen Lebensmitteln, vor allem bei Fleisch. In Schleswig-Holstein brach die Viehwirtschaft zusammen, die die umliegenden Großstädte versorgt hatte, in denen früh Massenarbeitslosigkeit herrschte. Zwangsversteigerungen von Höfen sorgten für Erbitterung – und eine massenhafte Hinwendung der Landbevölkerung zur NSDAP. Es war ein bezeichnendes Indiz für die Stimmungslage, dass die Selbstmordrate in keinem anderen Land so hoch lag wie in Deutschland. Die Parole «Arbeit und Brot» musste in dieser Situation griffiger wirken als die Zumutung neuer Opfer «hundert Meter vor dem Ziel», wie sie Brüning propagierte.
3. Rückkehr zur Machtpolitik
Unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise und der Rückkehr zum ökonomischen Nationalismus zerbrach in Deutschland die prekäre Mehrheit derer, die die industriekapitalistischen Zwänge der Integration in den Weltmarkt, die Abhängigkeit von Warenexporten und Kapitalimporten akzeptierten und darin nicht die Preisgabe der nationalen Souveränität sahen, sondern die Voraussetzung für das Wachstum einer entwickelten Volkswirtschaft. Diese Mehrheit reichte von der SPD bis zur DVP, vom RDI bis zu den Gewerkschaften. Doch auch in diesen Kreisen sorgte das Übergreifen des Börsenkrachs in den USA 1929 oder der Bankenkrise in Österreich 1931 für Verunsicherung. Die Kontrolle von Absatzmärkten war nicht nur ein Anliegen einer mit Überkapazitäten kämpfenden Industrie, sondern auch der Gewerkschaften zum Erhalt von Arbeitsplätzen. Der «Schutz der nationalen Arbeit» war seit Langem die Forderung der Landwirtschaft und des produzierenden Mittelstandes.
Mit der Regierung Brüning vollzog sich ein markanter Wandel in der Außenpolitik. Der gemäßigte Revisionismus hatte auf internationalen Interessenausgleich gesetzt, um, so Stresemann,«politische Fragen auf wirtschaftlichem Wege» zu lösen. Er und sein französischer Partner, Aristide Briand, waren bereit gewesen, durch Vorleistungen die Grundlagen für ein Klima der Verständigung zu schaffen. Die Präsidialkabinette – gedrängt von Hindenburg und den Konservativen, getrieben von der nationalistischen Kampfpropaganda der «Harzburger Front» – betrieben die Fundamentalrevision der Nachkriegsordnung im Namen der «Gleichberechtigung», u.a. durch
Weitere Kostenlose Bücher