Die weise Frau
Menschen vom Ort waren seit der Zerstörung der Abtei ohne Arbeit. Morach ließ verbreiten, daß sie einen neuen Lehrling hatte, und wenn einer sich an das Mädchen erinnerte, das vor vier Jahren fortgegangen war, sagte er nichts. Es war keine Zeit für Spekulationen und Klatsch. Zahlreiche Vagabunden lungerten noch um die Ruinen — Flüchtlinge, die von den Almosen der Nonnen gelebt hatten und nicht wußten wohin. Die Dorfbewohner von Bowes verriegelten ihre Türen, wiesen jeden ab, der auf Wohnrecht pochte, und vermieden es, über die Abtei, die Nonnen und die Feuersnacht oder die kleinen Diebstähle und Plündereien, die in den Tagen danach passierten, ein Wort zu verlieren.
Es wurde erzählt, die Brandschatzung der Abtei wäre ein Versehen gewesen. Die Soldaten unter der Führung des jungen Lords Hugo waren auf dem Heimweg von einem Überfall auf die Moorbanden gewesen, und sie hatten an der Abtei nur Halt gemacht, um den Nonnen Angst einzujagen und sie dem Wunsch des Königs gefügig zu machen, ihre Schätze und ihre üblen papistischen Bräuche aufzugeben. Es hatte mit ein paar wilden Spielchen und einem Feuer aus zerbrochenem Holz und etwas Teer begonnen. Sobald die Flammen sich ausgebreitet hatten, war Lord Hugo machtlos gewesen. Alle die Nonnen waren in den ersten Minuten ums Leben gekommen. Der junge Lord war ohnehin betrunken gewesen und konnte sich an fast nichts erinnern. Er beichtete und tat Buße bei seinem persönlichen Priester, Pater Stephen — einer vom neuen Glauben, der das Ausradieren eines Nestes verräterischer Papisten nicht unbedingt als Sünde sah -, und die Dorfbewohner nahmen sich alles, was die halbverbrannten Gebäude noch zu bieten hatten, und begannen dann, die Ruine zu plündern. Schon wenige Wochen nach ihrer Rückkehr in Morachs armselige Hütte konnte Alys sich überall zeigen. Keiner erkannte in ihr das halbverhungerte Kind, das vor vier Jahren weggegangen war. Und selbst wenn man sie erkannt hätte, so hätte doch keiner gewagt, sie anzuzeigen, denn das hätte Lord Hugh ins Dorf gerufen oder — noch schlimmer — seinen Sohn, den verrückten jungen Lord.
Alys konnte ungehindert ins Dorf gehen, wann immer sie wollte. Meist aber ging sie hinauf ins Moor. Jeden Tag, nachdem sie die trockene Erde des Gemüsebeetes umgegraben und von Unkraut befreit hatte, ging sie zum Fluß, wusch sich die Hände und bespritzte ihr Gesicht mit Wasser. In den ersten Tagen hatte sie sich ausgezogen und war mit klappernden Zähnen ins Wasser gewatet, um sich den Geruch von Schweiß, Rauch und Misthaufen abzuwaschen. Es hatte keinen Sinn. Die Erde unter ihren Nägeln und der Dreck in ihrer Haut ließen sich mit dem kalten, sumpfigen Wasser nicht entfernen, und außerdem hatte Alys, wenn sie zitternd und mit Gänsehaut zum Ufer zurückwatete, nur dieselben schmutzigen Kleider. Nach wenigen Wochen verlor sie den Ekel vor ihrem eigenen Körpergeruch, und bald roch sie auch Morachs Gestank kaum noch. Sie spritzte sich immer noch Wasser ins Gesicht, aber die Hoffnung, sich sauber zu halten, hatte sie aufgegeben.
Sie rieb sich das Gesicht mit der dicken Wolle ihres schmutzigen Kleides trocken und ging stromaufwärts am Flußufer entlang, bis sie zur Brücke kam, einem natürlichen Steg aus Sandsteinfelsen — breit genug, um mit einem Wagen darüberzufahren, stark genug, einen Ochsen zu tragen. Dort blieb sie stehen und schaute hinunter in das braune, moorige Wasser. Der Fluß strömte hier so träge dahin, daß es schien, als bewege er sich überhaupt nicht, als hätte er sein Leben in stillen, dunklen Teichen ausgehaucht.
Der Schein trügte, das wußte Alys. Als Tom und sie noch klein gewesen waren, hatten sie eine der Höhlen erkundet, die das Flußufer durchzogen. Wie Fuchswelpen hatten sie sich nach unten geschlängelt, immer weiter, bis der Gang schmäler wurde und sie nicht mehr weiterkonnten — aber unter sich hatten sie den lauten, hallenden Donner fließenden Wassers gehört und wußten, daß sie dem echten Fluß nahe waren, dem geheimen Fluß, der Tag und Nacht in ewiger Dunkelheit dahinströmte, tief versteckt unter dem falschen Flußbett.
Tom hatte sich vor dem hallenden, gluckernden Rauschen in der Tiefe gefürchtet. »Was, wenn er steigt?« hatte er gefragt. »Dann würde er hier rauskommen!«
»Er kommt hier heraus«, hatte Alys erwidert. Die Jahreszeiten ihres jungen Lebens waren bestimmt vom Wasserstand des Flusses, ein langweiliges Rinnsal im Sommer, eine gewaltige Flut während
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