Die weise Frau
ungebrochen.«
Mutter Hildebrande nahm Alys' Gesicht zwischen ihre Hände. »Gut gemacht«, sagte sie leise. »Man hat uns eine harte und erschöpfende Prüfung auferlegt, dir und mir, meine Tochter. Ich habe oft gedacht, daß es für die Anderen einfacher war, diejenigen, die in dieser Nacht gestorben sind und heute im Paradies weilen, als für mich, die ich mit einer Welt kämpfe, die Tag für Tag lasterhafter wird. Und es muß für dich furchtbar schwer gewesen sein«, sagte Mutter Hildebrande zärtlich. »Gott sei Dank haben wir uns wieder gefunden. Und jetzt brauchen wir uns nie wieder zu trennen.«
Alys versteckte ihr Gesicht in Mutter Hildebrandes Schoß. Die alte Frau legte ihre Hand auf Alys' Kopf.
»So wunderschönes Haar«, sagte sie liebevoll. »Ich hatte vergessen, Schwester Ann, wie golden dein Haar ist.«
Alys lächelte sie an.
»Ich habe dein Haar seit deiner Kindheit nicht mehr gesehen«,erinnerte sich Mutter Hildebrande. »Als du das erste Mal zu mir kamst ist aus der Welt der Sünde, mit deinen wunderschönen Locken und deinem blassen Gesicht.« Sie unterbrach kurz. »Du mußt dich vor der Sünde der Eitelkeit hüten«, sagte sie liebevoll. »Jetzt, wo du in die Welt hinausgestoßen wurdest als Frau. Jetzt, wo du ein rotes Kleid trägst, Schwester Ann, und offene Haare.«
»Sie zwingen mich dazu«, warf Alys hastig ein. »Ich habe keine anderen Kleider. Und ich hielt es für richtig, Lord Hugh, der mich beschützt, nicht zu gefährden, indem ich ein schwarzes Kleid trage.«
Mutter Hildebrande schüttelte den Kopf. »Du warst gezwungen, Kompromisse zu machen. Aber jetzt können wir wieder unser eigenes Leben leben. Hier in dieser Hütte werden wir beginnen. Wir werden hier ein neues Nonnenkloster gründen. Für den Augenblick nur wir beide, aber vielleicht kommen später mehr dazu. Wir beide werden unsere Gelübde einhalten und das Leben führen, das uns zugedacht ist. Wir werden ein kleines Licht für die Welt sein.«
»Hier?« fragte Alys mit gerunzelter Stirn.
Mutter Hildebrande lachte, es war ihr altes Lachen, voller Freude. »Warum nicht?« sagte sie. »Hast du gedacht, Unserer Lieben Frau zu dienen, bestünde nur aus vornehmen Kleidern und Silber und Kerzen, Schwester Ann? Du solltest es besser wissen! Die heilige Jungfrau war eine einfache Frau. Sie hat wahrscheinlich in einem Haus gelebt, das nicht viel besser war als das hier! Ihr Mann war Zimmermann. Warum sollten wir mehr wollen als sie ?«
Alys versuchte, sich zusammenzunehmen. »Aber, Mutter Hildebrande, wir können nicht hier leben. Im Sommer geht es, aber im Winter ist es schrecklich hart. Wir haben kein Geld, wir haben kein Essen. Die Leute werden über uns reden, und dann werden die Soldaten kommen...«
Mutter Hildebrande lächelte. »Gott wird für uns sorgen, Schwester Ann. Ich habe immerfort für dich gebetet, und ich habe darum gebetet, noch einmal nach den Ordensregeln leben zu können, und siehe da, meine Gebete sind erhört worden.«
Alys schüttelte den Kopf. »Sie sind nicht erhört worden«, sagte sie verzweifelt. »Das ist nicht die Antwort auf Eure Gebete. Ich weiß, wie es hier ist! Es ist dreckig und kalt. Im Garten wächst nichts Genießbares, und im Winter türmt sich der Schnee bis zur Tür. Gott will nicht, daß wir hier bleiben!«
Mutter Hildebrande lachte, und es war wieder ihr altes, zuversichtliches Lachen. »Du scheinst Ihm ja sehr nahe zu stehen, wenn du mit solcher Bestimmtheit reden kannst! Gräm dich nicht so, Schwester Ann. Laß uns nehmen, was Er uns gibt. Er hat uns einander wieder geschenkt und uns dieses Dach über dem Kopf gegeben. Wahrlich, Er ist gnädig!«
»Nein! Das ist unmöglich...«, bedrängte sie Alys. »Wir müssen weg von hier. Wir müssen nach Frankreich oder Spanien gehen. In England gibt es keinen Platz mehr für uns. Wir fordern das Unglück heraus, wenn wir hier bleiben und versuchen, in unserem Glauben zu leben.«
Die alte Äbtissin schüttelte den Kopf. »Ich habe geschworen, meinen Glauben hier zu leben«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Mir wurde befohlen, hier einen Orden zu leiten, hier in England. Keiner hat je gesagt, ich sollte weglaufen, wenn es hart wird.«
»Wir würden doch nicht weglaufen!« rief Alys. »Wir würden uns nur ein anderes Kloster suchen. Wir würden unsere Gelübde befolgen, so leben, wie wir es sollten.«
Die alte Äbtissin lächelte Alys an und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie leise. »Gott hat mir dreißig Jahre Wohlstand und
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