Die weise Frau
war alles, was sie sagte. »Bitte...«
»Wer seid Ihr?« fragte Alys verwirrt. »Wer seid Ihr? Was habt Ihr hier zu suchen?«
Die Frau zitterte am ganzen Körper. »Es tut mir leid«, sagte sie unterwürfig. Ihre Stimme war gebrochen vom Alter, aber die Sprache war gesetzt und süß. »Verzeiht mir. Ich dachte, dieses Haus stünde leer. Ich suchte...«
Alys kam näher, ihre Wut belebte sie wie heißer Wein. »Ihr habt kein Recht, hier zu sein!« schrie sie. »Dieses Haus steht nicht leer. Das ist keine Zuflucht für Bettler und Armenhäusler. Ihr müßt gehen.«
Die Frau streckte flehend die Hände aus. »Bitte, Mylady«, begann sie, und dann strahlte sie plötzlich übers ganze Gesicht und rief: »Schwester Ann! Mein Schatz! Meine kleine Schwester Ann! Oh, mein Schatz! Du bist in Sicherheit!«
»Mutter!« Jetzt hatte Alys sie erkannt, blind vor Freude warf sie sich in die Arme von Mutter Hildebrande, als wäre sie nie fortgewesen.
Die beiden Frauen klammerten sich aneinander. »Mutter, o meine Mutter!« Mehr brachte Alys nicht heraus. Die Äbtissin spürte, wie Alys' ganzer Körper vor Schluchzen bebte. »Meine Mutter.«
Mutter Hildebrande ließ sie behutsam los. »Ich muß mich setzen«, entschuldigte sie sich. »Ich bin sehr schwach.« Sie sank auf den Schemel. Alys fiel neben der Äbtissin auf die Knie.
»Wie seid Ihr hierhergekommen?« fragte sie.
Die Frau lächelte. »Ich glaube, Unsere Liebe Frau hat mich zu dir geführt. Ich war sehr lange krank und habe mich bei frommen Leuten auf einer Farm ein Stück außerhalb von Startforth versteckt. Sie haben mir von dieser kleinen Kate erzählt. Hier habe einmal eine alte Frau gelebt, aber sie sei verschollen. Sie dachten, wenn ich hier lebte und Medizin an die verkaufe, die sie von mir verlangen, wäre ich in Sicherheit. Und schon bald, dachten wir, könnte keiner mehr die eine alte Frau von der anderen unterscheiden.«
»Sie war eine Hexe«, sagte Alys angewidert. »Sie war eine dreckige, alte Hexe. Jeder könnte Euch von ihr unterscheiden.«
Mutter Hildebrande lächelte. »Sie war eine alte Frau mit mehr Wissen, als gut für sie war«, sagte sie. »Und das bin ich auch. Sie war eine Frau, die weit weiser war, als ihre Stellung es gestattete, und das bin ich auch. Sie muß eine Frau gewesen sein, die per Zufall oder mit Absicht zur Gesetzlosen wurde, und das bin ich auch. Ich werde hier leben, versteckt, im Frieden mit meiner Seele, bis sich die Zeiten ändern und ich Gott wieder in der Kirche seiner Wahl anbeten kann.«
Sie lächelte Alys an, als wäre das ein Leben, um das sie jeder beneiden würde, wie es einer weisen Frau vorschweben würde. »Und was ist mit dir?« fragte sie liebevoll. »Ich habe um dich getrauert und jede Nacht meines Lebens, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe, für deine unsterbliche Seele gebetet. Und jetzt habe ich dich wieder! Gott ist doch wahrlich gut. Wie ist es dir ergangen, Schwester Ann? Wie bist du dem Feuer entkommen?«
»Ich bin aufgewacht, als das Feuer ausbrach«, log Alys geistesgegenwärtig. »Und ich war auf dem Weg zur Kapelle, um die Glocke zu läuten, als sie mich erwischt haben. Sie haben mich in den Wald geschleppt, um mich zu schänden, aber ich konnte fliehen. Ich bin bis nach Newcastle gezogen, auf der Suche nach einem neuen Nonnenkloster, aber es war nirgends sicher. Als ich zurückkam, um nach Euch oder einer der Schwestern zu suchen, hat Lord Hugh im Schloß von mir erfahren und mich als Schreiber in seine Dienste aufgenommen.«
Mutter Hildebrandes Miene war streng. »Hat er dir befohlen, den Eid zu schwören, mit dem du deine Kirche und deinen Glauben verleugnest?« fragte sie. Ihre Hände zitterten immer noch, und ihr Gesicht war das einer gebrechlichen alten Frau, ihre Stimme dagegen war kräftig und bestimmt.
»Nein! Lord Hugh glaubt an die alten Bräuche. Er hat mich davor beschützt.«
»Und hast du deine Gelübde eingehalten?« fragte die alte Frau. Ihr Blick streifte Alys' prächtiges rotes Kleid, das Kleid von Meg, der Hure.
»O ja«, sagte Alys hastig. Sie drehte Mutter Hildebrande ihr blasses, herzförmiges Gesicht zu. »Ich habe schweigend die Gebetsstunden eingehalten. Ich darf natürlich nicht laut beten, und ich kann mir auch nicht aussuchen, was ich anziehe. Aber ich faste zu den gegebenen Zeiten, und ich habe keinen eigenen Besitz. Ich bin von keinem Mann berührt worden. Ich bin bereit, Euch meinen Gehorsam zu zeigen. All meine wichtigen Gelübde sind
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