Die weise Frau
vertrauten Platz. Nichts hatte sich verändert. Das mit Steinplatten gedeckte Dach sah aus, als würde es jeden Augenblick zusammenstürzen, das eine winzige Fenster war dunkel. Kein Rauch schwebte aus dem Fenster oder der Tür. Alys ging darauf zu und band ihr Pferd an einen Geißblattbusch voller cremig weißer, kränklicher Blüten an der Gartenmauer. Morachs Gemüse sproß zwischen dichtem Unkraut in seinen Beeten. Alys starrte es einen Augenblick lang an, erinnerte sich, wie sie es gepflanzt hatte. Irgendwie war es seltsam, daß Morach tot war, schon lange tot, und ihre Rüben hier weiter wuchsen. Die Vordertür war offen, der kleine Haken hatte nie sonderlich gut gehalten, die leichte Brise ließ sie klappern. Alys nahm an, daß die mutigsten Kinder aus dem Dorf vielleicht die Tür aufgebrochen hatten, um hineinzuschauen, und dann atemlos vor Angst in alle Winde davongelaufen waren. Keines von ihnen hätte es gewagt, näher heranzugehen.
»Ich wage es«, sagte Alys. Aber sie blieb stehen, wartete vor der Tür.
Die Tür quietschte und klapperte. In der Hütte raschelte etwas. Alys dachte, daß vielleicht Ratten in der Hütte wären, die sich an Morachs Samenvorrat gemästet hätten und in den Lumpen ihres Bettes nisteten. Alys wartete an der Türschwelle, fast als würde sie Morachs gereizte Stimme erwarten, die sie mahnte, nicht zu trödeln und hereinzukommen.
Das raschelnde Geräusch in der Hütte war verstummt. Alys zögerte aber noch immer, die Tür aufzustoßen und über die Schwelle zu treten. Da hörte sie deutlich, wie jemand sich bewegte. Jemand bewegte sich in der Hütte. Keine Ratte, es war nicht das Rascheln eines kleinen Tieres. Alys hörte Schritte. Jemand schlurfte langsam und schwerfällig über den Boden.
Alys wich unwillkürlich einen Schritt zurück, ihre Hand tastete nach den Zügeln ihres Pferdes. Die Schritte in der Hütte hielten inne. Alys öffnete den Mund, um etwas zu rufen, brachte aber keinen Ton heraus. Das Pferd senkte den Kopf mit angelegten Ohren, als spüre es Alys' Angst und den unheimlichen, geisterhaften Geruch von Tod aus der Hütte.
Da war plötzlich noch ein Geräusch, ein schleifendes Geräusch, als zerre jemand einen Hocker zum Herd. Alys sah ganz deutlich Morach vor ihrem inneren Auge, triefend naß, blau vor Kälte, die Haut aufgedunsen und schwammig von den Monaten unter Wasser, sah, wie sie aus ihrer Höhle stieg, als der Flußpegel sank, und naß flußaufwärts zu ihrer Hütte stapfte, ihren Schemel vor den kalten Herd zerrte und ihre weißen, wassergetränkten Hände über die nicht vorhandene Glut streckte. Ein modriger Todesgeruch schien aus der Hütte nach draußen zu dringen. Alys stellte sich vor, wie Morachs halbverwester Körper im Gehen zerfiel, sich von ihren Knochen löste, während sie auf Alys wartete. Wie sie in der dunklen Hütte darauf wartete, daß Alys die Tür öffnete.
Alys stöhnte vor Angst. Da drinnen saß Morach und wartete auf sie, und der Augenblick der Abrechnung war gekommen. Wenn Alys sich auf dem Absatz umdrehen und fliehen würde, würde sie sicher schnelle, nasse Tritte von faulenden Füßen hinter sich herlaufen hören, und dann würde sich eine eiskalte Hand auf ihre Schulter legen.
Alys stürzte sich mit einem Angstschrei auf die Tür und riß sie auf. Und sofort wurden ihre schlimmsten Alpträume Wirklichkeit.
Sie hatte sich die Geräusche nicht eingebildet.
Sie hatte sich die Schritte nicht eingebildet.
In der dunklen Hütte sah sie die Gestalt einer Frau, die vor dem Herd saß, die gebeugte Gestalt einer Frau, die in einen Umhang gewickelt war. Als die Tür aufschlug, richtete sie sich langsam auf und drehte sich um.
Alys schrie, und der Schrei erstickte in ihrer Kehle. In der finsteren Hütte konnte sie kein Gesicht sehen. Sie sah nur eine Frau mit Kapuze, die aufstand und näher und immer näher kam, auf sie zu, und über die Schwelle trat, so daß die Sonne ihr voll ins Gesicht schien. Alys schloß die Augen, erwartete den Anblick von gräßlich blauem, aufgedunsenem Fleisch, erwartete den Gestank einer Wasserleiche. Es war nicht Morach. Die Frau war größer als Morach. Das Gesicht, das sie Alys zudrehte, war weiß, alt und von Schmerz gezeichnet. Halb versteckt unter der Kapuze ihres Mantels war eine dichte Mähne weißer Haare. Ihre Augen waren grau. Die Hände, die sie Alys entgegenstreckte, waren hager und von Altersflecken übersät. Sie zitterten, als wäre sie an Schüttellähmung erkrankt.
»Bitte...«,
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