Die weise Frau
waren feucht.
»Was ist denn los mit dir?« fragte er.
»Es ist meine Verwandte«, sagte Alys. »Morach vom Bowes Moor. Ich hab die Nachricht bekommen, daß sie krank ist mit Fieber im Bauch. Sie ist meine einzige Angehörige auf dieser Welt...«
Sie warf ihm einen verstohlenen Blick zu und sah, daß er mitleidig nickte.
»Wenn ich nach Hause dürfte...«, flüsterte sie.
Lord Hugh schnippte mit seinen dünnen weißen Fingern. Der Zwerg stellte sich neben ihn und beugte sich zu ihm hinunter. Sie unterhielten sich kurz in einer Sprache, die Alys nicht verstand. Dann sah Lord Hugh sie amüsiert an.
»Wann ist deine Verwandte krank geworden?« fragte er.
»Gestern...« erwiderte Alys.
»Du lügst«, sagte Lord Hugh mit gutmütigem Grinsen. »Sie war heute morgen hier, hat an der Pforte nach dir gefragt und hat bei David die Nachricht hinterlassen, daß es ihr gut ginge und daß sie nächste Woche mit mehr Kräutern für dich käme.«
Alys errötete bis unter die Haarspitzen und schwieg.
»Komm jetzt«, sagte Lord Hugh. »Wir gehen essen.«
Auf halbem Weg zur Tür blieb er noch einmal stehen. »Sie schaut ja aus wie eine Lumpensammlerin!« rief er David zu. Alys' alte Nonnentracht, vom Feuer versengt und vom Lehm verdreckt, war um die Taille mit einem Schal zusammengehalten. Und sie hatte sich noch einen grauen Schal um den Kopf gewickelt.
»Hol ihr ein Kleid, eines von Megs alten Kleidern«, sagte Lord Hugh über die Schulter. »Sie kann es als Geschenk haben. Und nimm ihr den verdammten Schal vom Kopf.«
Der Zwerg machte Alys ein Zeichen zu warten und öffnete eine Truhe in einer Ecke des Zimmers. »Meg war seine letzte Hure«, sagte er. »Sie hatte ein hübsches rotes Kleid. Sie ist vor zwei Jahren an der Syphilis gestorben. Wir haben ihre Kleider hier reingetan.«
»Ich kann ihre Kleider nicht tragen!« rief Alys angewidert. »Ich kann kein rotes Kleid tragen.«
Der Zwerg zog ein kirschrotes Gewand aus der Truhe, suchte die Schultern und hielt es Alys unter die Nase.
Alys verschlang die Farbe mit den Augen, wie ein Durstiger einen Becher Wasser. »Oh«, sagte sie sehnsüchtig und machte einen Schritt darauf zu. Der Stoff war aus feiner, weicher Wolle gewebt, warm und seidig anzufassen. Am Hals, an den Puffärmeln und am Saum war es mit dunkelrotem Seidenband verbrämt. Meg war eine stolze Frau gewesen und hatte sich nicht um die Gesetze geschert, die dem gemeinen Volk das Tragen von Farben verbot. Es hatte sogar eine Silberschnur, um es um die Taille zu binden.
»Ich habe noch nie so feinen Stoff gesehn!« gestand Alys voller Ehrfurcht. »Und die Farbe! Und wie es sich anfühlt!«
»Da gehört noch ein gesticktes Schnürleibchen dazu«, sagte der Zwerg, warf Alys das Kleid zu und tauchte noch einmal in die Truhe. »Und ein passender Überrock.« Er kramte in der Truhe und zerrte das Leibchen mit langen, fließenden Ärmeln, einer feinen Silberverschnürung am Rücken heraus und einen reich geschnittenen Rock, mit Silber bestickt.
»Zieh's schon an«, sagte er ungeduldig. »Wir müssen in der Halle sein, bevor der Lord reinkommt.«
Alys zog die Hand zurück, die sie nach dem Leibchen und dem Rock ausgestreckt hatte. »Ich kann nicht das Kleid einer Hure tragen«, sagte sie. »Außerdem krieg ich davon vielleicht die Syphilis.«
Der Zwerg keuchte und wäre fast an seinem boshaften Gelächter erstickt. »So weise ist die Frau wohl auch wieder nicht!«
Tränen liefen ihm übers Gesicht. »Sich an einem Kleid anstecken! Das ist wohl die beste Ausrede, die ich je gehört habe.« Er warf ihr das Leibchen und den Rock zu, und Alys fing sie auf. »Zieh das an«, befahl er in plötzlich sehr unverschämtem Ton.
Alys zögerte noch immer. In ihrem Kopf hörte sie eine Stimme schreien, ihre eigene Stimme, die nach Mutter Hildebrande rief und flehte, sie von hier wegzuholen. Sie vor dieser Schande zu retten, so wie die Mutter Alys vor all den Jahren vor Morach gerettet hatte. Sie schüttelte den Kopf. Der Verlust der Abtei und der Verlust ihrer Mutter waren wie ein Nachtmahr, der seinen Schatten über jeden Augenblick des Tages legte. Lange Schatten der Einsamkeit und der Gefahr. Es gab keine Mutter, die sie liebte und beschützte, jetzt nicht mehr.
»Ich kann nicht das Kleid einer Hure tragen«, flüsterte sie.
»Zieh es an!« knurrte der Zwerg. »Entweder das oder ein Leichentuch, mein Fräulein. Ich scherze nicht. Der alte Lord bekommt seinen Willen, ohne Einwände. Ich erdolche dich, so wahr ich hier
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