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Die weise Frau

Die weise Frau

Titel: Die weise Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippa Gregory
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trat heraus und nahm seinen Platz in dem großen geschnitzten Stuhl genau an der Mitte des Tisches ein. Einen kurzen Augenblick lang herrschte überraschtes Schweigen, dann brüllte die ganze Halle vor Freude, Soldaten und Diener jubelten, hämmerten mit ihren Messern auf die Tische und trommelten mit ihren Stiefeln gegen die Bänke.
    Alys lächelte über diese herzliche Begrüßung und sah, wie der alte Lord seinen knochigen Schädel erst in die eine, dann in die andere Richtung beugte. »Er sieht gesund aus!« dachte sie. Nach einer Woche, in der sie ihn nur als Kranken in dem beengten Turmzimmer erlebt hatte, war es jetzt wirklich überraschend, ihn als Lord an seiner eigenen Tafel zu sehen. Sein Gesicht war leicht gerötet von der Hitze und der Freude über die stürmische Begrüßung. »Ich habe ihn geheilt!« dachte Alys überrascht und zufrieden. »Ich habe ihn geheilt! Sie haben ihn totgesagt, aber ich habe ihn geheilt.« Im Schutz ihrer langen Ärmel streckte sie ihre Hände aus und spürte, wie Macht sie durchströmte.
    Alys hatte schon öfter Menschen geheilt, Landstreicher und kranke Armenhäusler in der Ambulanz, einfache Farmer und Tagelöhner. Aber der alte Lord war der erste Mann, den sie beobachtete, wie er sich erhob und seine Macht, seine ganze Macht wieder ergriff. »Und ich habe es getan!« sagte sich Alys. »Ich habe ihn durch meine Künste kuriert.«
    Sie sah ihn an, lächelnd ob dieses Gedanken, und dann bewegte sich der Vorhang hinter ihm erneut, und der junge Lord Hugo betrat die Halle.
    Er war hochgewachsen wie sein Vater, mit demselben scharfen, knochigen Gesicht. Er hatte auch die durchdringenden schwarzen Augen seines Vaters und dessen Adlernase. Sein Mund war von tiefen Furchen umrahmt, und zwei Falten an den Wurzeln seiner Augenbrauen zeugten scheinbar von ständig grimmiger Miene. Doch dann rief jemand »Hallo, Hugo!«, und sein Gesicht leuchtete plötzlich, als hätte jemand einen Heuhaufen in Brand gesteckt, und er lächelte, atemberaubend strahlend, glücklich. Alys sagte: »Heilige Mutter Gottes!«
    »Was ist denn?« fragte David mit einem scheelen Seitenblick auf sie. »Hast du das zweite Gesicht? Hast du etwas gesehen?«
    »Nein«, wehrte Alys sofort ab. »Ich sehe nichts. Ich sehe nichts. Ich habe nur...«, sie verstummte kurz. »Ich habe ihn nur lächeln sehen«, sagte sie hilflos. Sie versuchte, David anzuschauen, aber sie konnte den Blick nicht von dem jungen Lord lösen. Er stand da, eine Hand lässig auf seine Stuhllehne gestützt, das Gesicht dem Vater zugewandt. Ein Juwel an einem seiner langen, schlanken Finger funkelte im Fackellicht, ein Smaragd, grün wie sein Wams und seine Samtkappe, die schief auf seinen schwarzen Locken thronte.
    »Da ist das zänkische Weib«, sagte David. »Sie wird ihren Platz zur Linken des Lords einnehmen.«
    Alys hörte ihn kaum. Sie starrte immer noch unverwandt den jungen Lord an. Er war bei der Brandschatzung der Abtei dabeigewesen. Er war es gewesen, der gelacht hatte, als die Dachziegel in der Hitze wie Feuerwerk zersprungen waren und das Blei wie ein glühender Wasserfall heruntergestürzt kam. Es war seine Schuld, daß die Abtei niedergebrannt war, daß Mutter Hildebrande tot und Alys wieder hilflos und allein in der Welt war. Er war ein Verbrecher, der tiefsten und dunkelsten Sünden schuldig. Er war ein Mörder. Alys schaute sein strenges Gesicht an und wußte, daß sie ihn hassen sollte. Aber Hugos Charme war mächtig wie ein Zauber. Sein Vater sagte etwas, was ihn amüsierte, und er warf lachend den Kopf zurück, und Alys mußte feststellen, daß sie mitlachte, wie Menschen mit einem Kind mitlachen oder mit der überschäumenden Lebensfreude eines anderen. Alys blickte quer durch die Halle zu Hugo und wußte, daß auch ihr Gesicht, ungesehen und unbemerkt, vor Freude, ihn zu sehen, strahlte.
    »Schau dir den Stolz dieses Weibes an«, sagte der Zwerg verächtlich.
    Die Frau des jungen Lords war groß und sah älter aus als er. Sie trug ihre Macht wie einen Umhang. Sie musterte mit teilnahmsloser Miene die Anwesenden, begrüßte kühl, makellos ihren Schwiegervater. Sie zögerte kurz, höflich, bevor sie sich setzte, um den Lords Zeit zu geben, sich zuerst zu setzen. Dann schaute sie die Halle hinunter und sah Alys.
    »Verbeuge dich«, sagte der Zwerg. »Beuge um Himmels willen deinen Kopf! Sie schaut dich an.«
    Alys begegnete furchtlos dem kalten grauen Blick der Frau. »Das werde ich nicht«, sagte sie.
    Lady Catherine drehte

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