Die weise Frau
hinauf.
»Bete, daß du ihn nie kennenlernst«, sagte der Mann mit grimmiger Miene. »Das ist der Gefängnisturm. Im ersten Stock ist der Wachraum, und darunter sind die Zellen. Dort haben sie eine Streckbank und Daumenschrauben, eine Kopfpresse und andere Folterinstrumente. Bete, daß du sie nie siehst, Mädel! Hinterher bist du viel gesprächiger — aber größer! Viel größer! Dünner! Und manchmal zahnlos! Auf jeden Fall billiger als der Bader!« Er lachte barsch.
»Hier!« Er rief einen Soldaten, der aus den Schatten trat. »Hier ist die weise Frau aus Bowes. Bring sie und das Bündel sofort zu Lord Hugh. Keiner darf sie belästigen! Befehl des Lords!«
Er stieß Alys vorwärts. Der Soldat packte sie und führte sie die Steintreppe zu einer halbrunden Tür hinauf. Die Tür, dick wie ein Baumstamm, stand offen. Innen flackerte eine Fackel, die einen schwarzen Rußstreifen auf der Wand hinterließ. Das Schloß atmete Kälte, schwitzte Feuchtigkeit. Alys zog schaudernd ihren Schal fester. Hier war es sogar kälter als in Morachs zugiger Hütte. Hier hielten die Schloßmauern den Wind ab, aber kein Sonnenstrahl drang je hinein. Alys bekreuzigte sich unter ihrem Schal. Sie hatte die dunkle Ahnung, daß sie tödliche Gefahr erwartete. Der finstere Korridor vor ihr, mit rauchenden Fackeln an jeder Ecke, war wie ihre schlimmsten Albträume aus dem Nonnenkloster: der Geruch von Rauch, das Knistern von Flammen und ein langer, langer Gang ohne Ausweg.
»Komm«, befahl der Mann barsch und packte Alys mit festem Griff. Sie ließ sich von ihm eine enge Wendeltreppe hochzerren, bis er sagte: »Hier«, und klopfte, dreimal kurz und zweimal lang, an eine massive Holztür. Sie schwang auf. Alys blinzelte. Drinnen war es hell, ein halbes Dutzend Männer lümmelten auf Bänken um einen langen Tisch mit Resten ihres Abendessens. Zwei große Jagdhunde machten sich in der Ecke knurrend über Knochen her. Die Luft dampfte von fettigem Rauch und dem Geruch von Schweiß.
»Ein Mädel!« sagte einer. »Das ist aber nett!«
Alys drückte sich hinter den Soldaten, der sie immer noch festhielt. Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Das ist die weise Frau aus Bowes, die den Lord besuchen will. Geht es ihm gut?«
Ein junger Mann am hinteren Ende des Raumes winkte sie durch. »Keine Besserung«, sagte er leise. »Er will sie sofort sehen.«
Er zog einen Gobelin hinter sich beiseite und öffnete eine schmale, halbrunde Tür. Der Soldat ließ Alys los und drückte ihr ihr Bündel in die Hand. Sie zögerte.
»Geh schon«, sagte der junge Mann.
Sie blieb stehen. Der Soldat hinter ihr gab ihr einen kräftigen Schubs. Alys verlor das Gleichgewicht und stolperte durch den Raum, vorbei an den Augen der Männer. Vor ihr, hinter der Tür, war eine kurze, flache Steintreppe, die von einer einzelnen Fackel erleuchtet war. Die Treppe endete vor einer weiteren Tür.
Alys trat in ein dunkles Zimmer, nur vom Schein des Feuers und einer blassen Wachskerze erleuchtet, die auf einer Truhe neben einem kleinen, hohen Bett stand. Am Kopf des Bettes stand ein winziger Mann, kaum größer als ein Kind. Seine dunklen Augen waren auf Alys gerichtet, und seine Hand glättete das Kissen.
Auf dem Kissen lag ein hageres Gesicht, gezeichnet von Krankheit und Leid, die Haut gelb wie herbstliche Birkenblätter. Aber die Augen, deren Lider sich jetzt öffneten und Alys anstarrten, waren strahlend und schwarz wie die eines alten Wanderfalken.
»Bist du die weise Frau?« fragte er.
»Meine Künste sind sehr gering«, sagte Alys. »Und mein Wissen auch. Ihr solltet nach jemand Gelehrtem schicken, einem Apotheker oder vielleicht sogar einem Bader. Ihr solltet einen Arzt rufen.«
»Die würden mich zur Ader lassen, bis ich sterbe«, entgegnete der kranke Mann langsam. »Sie haben mich schon zur Ader gelassen, bis ich fast gestorben bin. Bevor ich sie hinausgeworfen habe, haben sie gemeint, daß sie nichts mehr tun könnten. Sie glaubten, ich wäre schon tot, Mädchen! Aber ich werde nicht sterben. Ich kann noch nicht sterben. Meine Pläne sind noch nicht verwirklicht. Du kannst mich doch retten, oder?«
»Ich werd's versuchen«, sagte Alys und verkniff sich die verneinende Antwort. Sie drehte sich zum Kamin und legte Morachs Schal auf den Boden. Im Licht des Feuers löste sie den Knoten und breitete den Inhalt aus. Der kleine Mann trat zu ihr und hockte sich neben sie. Sein Kopf reichte ihr gerade bis zur Schulter.
»Bedient Ihr Euch der Schwarzen
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