Die weise Frau
Künste, Mistress?« fragte er leise.
»Nein«, erwiderte Alys sofort. »Ich hab ein bißchen Erfahrung im Umgang mit Kräutern durch das, was meine Herrin mir beigebracht hat. Sie hättet Ihr holen sollen.«
Der Zwerg schüttelte den Kopf. «In ganz Bowes sprechen sie von der neuen jungen weisen Frau, die aus dem Nichts gekommen ist und bei der alten Witwe Morach am Fluß wohnt. Er will nichts mit den schwarzen Künsten zu tun haben«, sagte er und deutete auf die reglose Gestalt im Bett.
Alys nickte. Sie schob das schwarzgebundene Gebetbuch zurecht, legte Kräuter und Mörser und Stößel rechts neben sich.
»Was ist das?« fragte der Zwerg und deutete auf den Stein mit dem Band.
»Ein Kristall«, erwiderte Alys.
Sofort bekreuzigte sich der kleine Mann und biß sich in die Daumenspitze. »Um in die Zukunft zu sehen?« fragte er. »Das ist schwarze Kunst!«
»Nein!« sagte Alys. »Um die Quelle der Krankheit zu finden. Wie Wasser mit der Wünschelrute suchen. Wasser suchen ist auch keine Schwarze Kunst, das kann jedes Kind.«
»Ja.« Der Mann nickte, gab ihr in diesem Punkt recht. »Ja, das stimmt.«
»Hört mit dem Geplapper auf!« ertönte es plötzlich im Befehlston vom Bett. »Komm her, und kuriere mich, weise Frau.«
Alys erhob sich und nahm das zerfledderte Band des Kristalls zwischen Daumen und Zeigefinger, so daß es wie ein Pendel baumelte. Bei dieser Bewegung glitt ihr Schal ein Stück vom Kopf. Der Zwerg stieß einen leisen Schrei aus, als er ihre nachwachsenden Haare sah.
»Was hast du denn mit deinem Kopf gemacht?« fragte er. Dann wurde sein Gesicht mit einem Mal verschlagen. »Hat man ihn dir geschoren, mein hübsches Mädel? Bist du eine Nonne, die aus einer Abtei geflohen ist, wo alte Frauen reich werden und verräterische Reden schwingen?«
»Nein«, sagte Alys hastig. Im Hof unter dem Fenster krähte ein Hahn kurz in die Dunkelheit. »Mich hatte in Penrith das Fieber ergriffen, und da haben sie mir den Kopf geschoren«, sagte sie. »Ich bin keine Nonne. Ich weiß nicht, was du mit verräterisch meinst. Ich bin bloß ein einfaches Mädchen.«
Der Zwerg nickte ungläubig grinsend, dann hüpfte er zu seinem Platz am Kopfende des Bettes und streichelte wieder das Kissen.
Alys näherte sich. »In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti«, murmelte sie. Der Stein an dem Band beschrieb einen gemächlichen Bogen im Uhrzeigersinn. »Das ist Gottes Werk«, sagte Alys. Der Stein schwang etwas weiter aus, etwas schneller. Alys' Atem wurde ein wenig ruhiger. In der Abtei hatte sie nie ein Pendel benutzt, die Nonnen mißbilligten es als übernatürliche Macht.
Der Stein gehörte Morach. Alys hoffte, daß sie, indem sie den Stein segnete, innerhalb der verschwommenen Grenzen blieb, die Gottes Werk von dem des Teufels trennten. Aber angesichts des grimmigen Blickes des Lords und des boshaften Grinsens des Zwerges war wohl die Gefahr, wegen Ketzerei verbrannt zu werden, genauso groß, wie als Hexe erwürgt zu werden.
Sie legte ihre Hand, die kaum merklich zitterte, auf die Stirn des alten Lords.
»Die Krankheit ist hier«, sagte sie, wie sie es bei Morach gesehen hatte.
Der Zwerg zischte, als das Kristall das Muster des Kreises durchbrach und sich statt dessen hin- und herbewegte.
»Was bedeutet das?« fragte er.
»Die Krankheit ist nicht in seinem Kopf.«
»Ich hab nicht gesehen, wie deine Finger den Kristall bewegt haben?«
»Hör mit dem Geplapper auf«, fuhr der alte Lord den Zwerg an. »Laß das Mädel ihre Arbeit verrichten.«
Alys zog die prächtigen Decken zurück, mit denen der alte Mann zugedeckt war. Sie sah sofort, wie seine Haut unter dem Luftzug erzitterte, trotz der Wärme im Zimmer. Sie legte vorsichtig ihren Handrücken an seine verwitterte Wange. Er brannte innerlich.
Sie ließ ihre Hand behutsam auf seinem flachen Bauch nieder und flüsterte: »Seine Krankheit ist hier?« und spürte sofort die Änderung in der Bewegung des Steins. Er kreiste jetzt heftiger, und Alys nickte dem Lord mit gewachsenem Selbstvertrauen zu.
»Ihr habt Fieber im Bauch«, sagte sie. »Habt Ihr gegessen oder gefastet?«
»Gegessen«, sagte der alte Mann. »Sie zwingen mir das Essen auf, und dann lassen sie mir alles Gute wieder aus den Adern.«
Alys nickte. »Ihr könnt essen, was Euch schmeckt. Kleine Sachen, die Euch verlocken. Aber Ihr müßt Quellwasser trinken. Soviel wie möglich. Einen halben Liter alle halbe Stunde heute und morgen. Und es muß Quellwasser aus dem Moor sein, nicht das
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