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Die weise Frau

Die weise Frau

Titel: Die weise Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippa Gregory
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ihren Glauben, ihre Freunde, ihre Chance auf Wohlstand und Geborgenheit und auf ein zurückgezogenes Leben. Alys hätte bis ins höchste Amt der Abtei aufsteigen, selbst eines Tages Äbtissin werden können. Aber dann wurde ihr alles in einer Nacht entrissen. Jetzt stand sie wieder draußen und schaute durchs Fenster. Sie hatte ihre Zukunft verloren — und ihre Mutter auch. Alys zwang sich, nicht an Mutter Hildebrande zu denken, um sich nicht mit Tränen der Einsamkeit und des Verlustes bei Tisch vor allen bloßzustellen.
    Am Tisch der Lords wurde Lachsfilet gereicht und ein Salat aus Petersilie, Salbei, Lauch und Knoblauch. Alys beobachtete, wie das Gericht serviert wurde. Das Grünzeug war frisch, aus dem Küchengarten wahrscheinlich. Der Lachs war sicher erst heute früh im Greta gefangen worden. Alys fühlte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief angesichts des blassen, leckeren Fleisches, das von Butter glänzte. Ein junger Lakai schob ihr ein dickes Stück Brot hin, dick mit Fleischpaste bestrichen, die mit Honig und Mandeln gesüßt war, und ein zweiter goß noch einmal Bier in Alys' Becher.
    Alys schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Hunger«, meinte sie. »Ich möchte mich ausruhen.«
    Eliza Herring schüttelte den Kopf. »Du darfst den Tisch nicht verlassen, bevor Pater Stephen das Dankgebet gesprochen hat«, sagte sie. »Und nicht, bevor die Lords und Mylady gegangen sind. Und dann mußt du deine Reste in die Schüssel des Almosensammlers für die Armen geben.«
    »Sie essen Reste vom Tisch?« fragte Alys.
    »Sie sind froh darum«, sagte Eliza in scharfem Ton. »Habt ihr denn in Penrith den Armen nichts gegeben?«
    Alys dachte an die sorgsam eingeteilten Portionen der Nonnen. »Wir haben ganze Brotlaibe gegeben«, sagte sie. »Und manchmal ein Faß Fleisch. Wir haben jedem zu essen gegeben, der an der Küchentür geklopft hat. Wir haben ihnen nicht unsere Reste gegeben.«
    Eliza hob erstaunt ihre gezupften Brauen. »Nicht sehr mildtätig!« sagte sie. »Der Almosensammler Lord Hughs geht jeden Morgen seine Runde in den Armenhäusern mit einer Schüssel mit den Resten vom Mittag und vom Abend.«
    Der Priester, der am Kopf des Tisches unterhalb der Plattform saß, erhob sich und sprach mit klarer, durchdringender Stimme ein lateinisches Gebet. Dann wiederholte er es in Englisch. Alys lauschte aufmerksam: Sie hatte noch nie gehört, wie Gott in Englisch angeredet wurde, es schien ihr Blasphemie — eine furchtbare Beleidigung, Gott so anzusprechen, wie einen Bauern aus der Nachbarschaft, mit ganz gewöhnlichen Worten. Aber sie ließ sich nichts anmerken, bekreuzigte sich nur, wenn die anderen es taten, und erhob sich gleichzeitig mit ihnen.
    Lady Catherine, der alte Lord und der junge Lord wandten sich jetzt der Tür neben dem Tisch der Hofdamen zu.
    »Was für ein schönes Kleid du hast«, sagte Lady Catherine zu Alys, als hätte sie es gerade erst bemerkt. Ihre Stimme war freundlich, der Blick aber eisig.
    »Lord Hugh hat es mir gegeben«, sagte Alys mit ruhiger Stimme. Sie begegnete Lady Catherines Blick ohne Blinzeln. »Ich könnte dich hassen«, dachte sie.
    »Ihr seid wirklich zu großzügig, Mylord«, sagte Lady Catherine lächelnd.
    Lord Hugh grunzte. »Sie wird hübsch sein, wenn die Haare nachgewachsen sind«, sagte er. »Ihr werdet sie in Eure Gemächer aufnehmen müssen, Catherine. Solange ich krank war, konnte sie gut bei mir schlafen. Wenn sie bleiben soll, schläft sie am besten bei Euren Frauen.«
    Lady Catherine nickte. »Natürlich, Mylord«, sagte sie freundlich. »Was immer Ihr befehlt. Aber wenn ich gewußt hätte, daß Ihr einen Sekretär braucht, hätte ich Eure Briefe schreiben können. Ich vermute, daß mein Latein ein bißchen besser ist als das dieses... dieses Mädchens.« Sie lachte leise.
    Lord Hugh warf ihr einen finsteren Blick zu. »Das mag wohl sein«, sagte er, »aber nicht alle meine Briefe sind für die Augen einer Dame geeignet. Und das alles geht nur mich etwas an.«
    Zwei hektische Flecken erschienen auf Lady Catherines Wangen. »Natürlich, Mylord«, sagte sie. »Ich hoffe nur, das Mädchen wird Euch von Nutzen sein.«
    »Komm jetzt mit in mein Gemach«, sagte der alte Lord zu Alys. »Komm, ich werde mich auf dich stützen.«
    Er winkte Alys zu sich. Sie spürte die Abneigung von Lady Catherine wie einen kalten Lufthauch. Doch sie bezwang das Schaudern, das ihr den Rücken bis in ihren kahlen Nacken hinaufstieg. Dann packte Lord Hughs schwere Hand beruhigend ihre

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