Die weise Frau
von allen Seiten drohte — und ihr mit
ihm —, wie ein Hase die Hunde. Jetzt erfuhr sie zum ersten Mal, daß das Land von einem Netz von hinterlistigen, intriganten Gutsherren regiert wurde, die sich nur gegenseitig und dem Königreich verantwortlich waren. Jeder von ihnen kannte nur ein Ziel: den Reichtum und die Macht seiner Familie zu erhalten und zu vergrößern. Und das konnte nur geschehen, indem sie die Grenzen ihrer Güter erweiterten — und das Land ungeteilt von Generation zu Generation vererbt wurde.
Während ihr Federkiel über das erstklassige Pergament kratzte, erkannte Alys, daß die Zeugung von Hugos Sohn, dem Enkel des alten Lords keine persönliche Angelegenheit zwischen Hugo und seinem zänkischen Weib war, ja nicht einmal eine Familienangelegenheit zwischen dem alten Lord und seinem Sohn. Es war eine finanzielle Angelegenheit, eine politische. Falls Hugo erbte und dann kinderlos starb, würde der Sitz des Lords von Castleton frei, die Güter unter Käufern aufgeteilt, die Familiengeschichte und das Wappen zurück an den König fallen, der es dann meistbietend verkaufen würde. Damit wäre die große Familie aus dem Norden ausgelöscht, der Name vergessen. Jemand anderes würde Schloß, Wappen und sogar Familiengeschichte für sich beanspruchen. Das war Lord Hughs größte Angst: Man würde abstreiten, daß er je existiert hatte. Alys hörte seine Angst aus jeder Zeile, die er diktierte.
Hugh korrespondierte auch mit dem Hof. Er besaß Wertgegenstände aus der zerstörten Abtei, die er nach Süden schicken wollte, als Geschenk für den König. Die Auflistung, die er Alys diktierte, war ein Meisterwerk des Unterschleifs: Aus goldenen Kerzenleuchtern wurden silberne oder sogar welche aus Messing, schwere Goldplatten verschwanden ganz von der Liste. »Wir haben ja schließlich die Arbeit gemacht«, erklärte er Alys eines Tages. »Mein Hugo war es, der die Abtei zerstört hat, die Arbeit des Königs mit patriotischem Eifer erledigt hat. Wir haben uns unseren Anteil verdient.«
Alys listete das Silber und Gold auf, das sie poliert und benutzt hatte, erinnerte sich an die Form des silbernen Kelches und den süßen, heiligen Geschmack des Meßweines.
»Wenn ich hier nicht wegkomme, verlier ich den Verstand«, dachte sie.
»Bei dem Nonnenkloster sind Fehler passiert«, sagte Lord Hugh. Seine Stimme klang nicht sonderlich reumütig. »Die Schergen des Königs haben uns erzählt, die Nonnen wären korrupt, und Pater Stephen und Hugo sind zu der alten Äbtissin gegangen und haben versucht, sie zu überreden, die Strafe zu zahlen und sich zu bessern. In allen anderen Klöstern, die sie besucht haben, haben die Nonnen oder Mönche ihre Schätze ausgehändigt, ihre Fehler gebeichtet, und Hugo hat Milde walten lassen. Aber die alte Äbtissin war ein eingeschworener Papist. Ich glaube, sie hat nie das Recht des Königs anerkannt, die verwitwete Prinzessin Catherina von Aragon abzusetzen.« Lord Hugh sprach den Titel sehr bedacht aus. Er hatte sie achtzehn Jahre lang Königin Catherina genannt und wagte, selbst wenn nur Alys zuhörte, keinen Versprecher. »Die Äbtissin hatte zwar den Eid auf die Anerkennung Königin Annes geschworen, aber ich bin mir nicht sicher, wie ernst ihr das war.«
Er hielt inne. »Sie wollte mit Pater Stephen nicht über ihren Glauben diskutieren, nicht einmal, als er sie der Laxheit und des Mißbrauchs bezichtigte. Sie hat ihn einen jungen Ehrgeizling genannt.« Lord Hugh mußte lachen. »Sie hat ihn beleidigt und abgekanzelt und sie dann beide hinausgeworfen — meinen Hugo und Pater Stephen. Wie gescholtene Buben sind sie nach Hause geschlichen. Eine beeindruckende Person.« Er kicherte. »Ich hätte sie gern kennengelernt. Eine Schande, daß sie sterben mußte.«
»Was waren das denn für Fehler?« fragte Alys, bedacht, ganz beiläufig zu klingen.
»Hugo war betrunken«, sagte der alte Lord. »Er war mit den Soldaten auf dem Heimweg. Sie hatten sieben Tage lang eine Bande von Moorräubern gejagt. Er war betrunken und zu Scherzen aufgelegt, und die Männer waren schon zu lange im Kampfund Bierrausch gewesen. Sie machten ein Feuer, um sich zu wärmen und um im Licht ihre Schätze aufzuteilen. Sie wurden bestraft, alles rechtmäßig — oder zumindest fast rechtmäßig. Pater Stephen wollte sich nicht mit ihnen treffen und vernünftig mit den Nonnen verhandeln, er war immer noch verärgert über die alte Frau. Er schickte Hugo eine Botschaft, in der er ihn aufforderte, sie
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