Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
Im Großen und Ganzen ist die Börse also ein Markt, dessen Teilnehmer der Überzeugung sind, dass die Aktienpreise steigen.
Das Misstrauen beruht nicht allein auf den Verordnungen gegen Optionshandel. Hinzu kommt, dass die Mehrheit der Anleger – inklusive der meisten professionellen Investmentfonds-Manager – den Terminhandel reizlos findet: einerseits, weil mit Optionen zu handeln riskanter ist, als Aktien zu kaufen (die Aktien haben im Schnitt über lange Zeit stetig an Wert zugelegt); andererseits, weil beim Optionshandel die potenziellen Verluste grenzenlos sind (die Aktie könnte ja einfach weiter steigen). Außerdem gibt es da auch noch ein emotionales Problem.
»Früher habe ich den Optionshandel nicht schwieriger gefunden als den üblichen Aktienhandel«, erklärte der Chef des Optionsfonds Kynikos, Jim Chanos (der übrigens als Erster erkannte, dass der Enron-Konzern ein Kartenhaus war). »Schließlich erfordern beide Tätigkeiten die gleichen Fähigkeiten. In beiden Fällen muss man darüber urteilen, ob ein Aktienpreis den realen Wert eines Unternehmens spiegelt. Inzwischen bin ich der Ansicht, dass es sich doch um unterschiedliche Tätigkeitsfelder handelt. Es gibt nur ganz wenige Menschen, die in einer Atmosphäre permanenter Ablehnung beständig gute Leistungen zu erbringen vermögen, und wer mit Aktienoptionen handelt, hat unentwegt mit solch laut propagierter Ablehnung zu tun. Wir sind uns beim morgendlichen Betreten des Büros voll bewusst, dass Wall Street, die Medien und zehntausende PR-Firmen uns tagein, tagaus als Idioten verunglimpfen, und wir müssen erleben, dass der Markt Schwarz für Weiß ausgibt. Wir werden nicht von einem Dauerbeifallsgetrommel angefeuert wie Leute, die Aktien kaufen. Uns trommelt man nur unablässig auf den Kopf.« Angesichts all dessen kann es nicht verwundern, dass in einem normalen Jahr lediglich zwei Prozent der an der New Yorker Börse gehandelten Aktien ins Termingeschäft kommen. Zieht man die Verordnungen der amerikanischen Börsenaufsicht, der Securities and Exchange Commission (SEC), das viel höhere Risiko, den Widerstand der ganzen Branche, die sich dem Ziel der Wertsteigerung von Aktien verschrieben hat, sowie den zusätzlichen Makel in Betracht, »unamerikanischer Aktivitäten« bezichtigt zu werden, so wirkt es fast wie ein Wunder, dass überhaupt jemand mit Aktienoptionen handelt.
Das mag wenig bedauerlich erscheinen, da steigende Aktienpreise instinktiv als eine gute Sache empfunden werden. Nur sind steigende Aktienpreise an und für sich keine gute Sache. Es war in den neunziger Jahren der unglaubliche Anstieg der Enron-Aktie, der es dem Konzern erlaubte, riesige Mengen Kapital aufzunehmen, das dann in dunklen Schächten versickerte und zu hunderten Millionen Dollar in den Taschen der Manager verschwand – Kapital, mit dem die Anleger beispielsweise ihren Kindern eine ausgezeichnete höhere Bildung hätten finanzieren können. Ohne das Hochschnellen der Enron-Aktie wären also praktisch alle besser dran gewesen. Der Erfolg des Börsenmarkts ist nicht daran zu messen, ob die Aktienpreise steigen, sondern vielmehr daran, ob die Aktienpreise angemessen sind. Und es wird für einen Markt schwieriger, die angemessenen Preise zu finden, wenn es an Kapital zum Handeln mit Optionen mangelt.
Ausschlaggebend ist nicht, dass Optionshändler ungewöhnlich brillante Anleger sind oder mit ihrer Skepsis gegenüber den Zukunftsaussichten von Firmen stets richtig liegen. Es ist zwar wahr, dass Optionshändler wie Jim Chanos eine eindrucksvolle Bilanz vorweisen können, was das Aufdecken von gesetzeswidrigem Verhalten und von Korruption in Unternehmen betrifft, dass sie erkennen, wenn Aktienpreise Phantasievorstellungen, nicht aber eine Unternehmenssubstanz reflektieren. Doch kann uns nicht allein daran gelegen sein, dass die Aktienpreise korrupter Unternehmen auf dem Boden bleiben. Wir sollten dafür sorgen, dass alle Aktienpreise stimmen. Und eben deshalb ist das Termingeschäft mit Aktien aus einem ganz einfachen Grund von wirklichem Wert. Wir wissen: Es gelangen diejenigen Gruppen zu den besten Beurteilungen, in denen ein breites Meinungsspektrum und Informationsvielfalt gegeben sind, in denen die Befangenheiten Einzelner einander ausgleichen können. Wenn, wie wir erkannt haben, der Aktienpreis eines Unternehmens einen qualifizierten Durchschnitt von Anlegerbeurteilungen darstellt, ist er wahrscheinlich korrekter, als wenn alle Investoren aus der gleichen
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