Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
irgendeinem Fixpunkt aus, und statt neue Informationen getrennt für sich zu betrachten, setzen sie die Informationen stets in Bezug zum Preis der Aktie zum Zeitpunkt des Kaufes. Sie passen – ganz im Sinne ökonomischer Theorie – ihre anfängliche Beurteilung der Aktie der neuesten Information an. Es spielt aber am Ende keine Rolle. Das Kaufen und Verkaufen der Roboter-Anleger konvergiert schließlich ganz in Nähe des optimalen Aktienpreises. Diese Händler verhalten sich irrational, und der Markt vermag es trotzdem zu richten.
Ließe sich nun behaupten, solche Verhaltenseigenheiten seien lediglich Anomalien, die für die Funktionsweise der Märkte irrelevant sind? Doch wohl kaum. Denn es treten, wie wir im Folgenden noch sehen werden, Perioden auf, während derer Märkte ganz offenkundig von Emotionen beherrscht werden und Aktienpreise grundfalsch sind. Und die weithin emotional bestimmte negative Einstellung zu Optionsgeschäften hat eindeutige Auswirkungen. Solange die Abweichungen von der Rationalität willkürlich bleiben, werden Fehler sich gegenseitig aufheben und wird die Gruppe eine angemessene Antwort finden. Sind die Fehler aber nicht willkürlich beziehungsweise zufällig, sondern systematisch beziehungsweise tendenziell, so werden Märkte sich schwerer tun, eine gute Lösung zu finden. Ein Beispiel beruht auf der Neigung der Amerikaner, zu wenig zu sparen. Laut ökonomischer Theorie ist der Konsum über den gesamten Zeitraum eines Erwachsenenlebens relativ stabil; das klingt ja auch plausibel, da für den Menschen jeder Lebensmoment eigentlich gleichermaßen wichtig ist: Warum sollte man also mit dem Älterwerden weniger Freude am Leben haben (indem man sich weniger gönnt)? Um sich das zu ermöglichen, müssten die Menschen jedoch während ihres Berufslebens einen beachtlichen Teil ihres Einkommens sparen, um des künftigen Konsums willen also ihren gegenwärtigen Konsum einschränken.
Das tun die meisten Amerikaner aber eben nicht. Es ist vielmehr so: Vom Zeitpunkt der Pensionierung an geht der Konsum stark zurück. Ältere Bürger müssen mit sehr viel weniger auskommen als während ihres Arbeitslebens. Das heißt nun aber nicht etwa, dass die Leute das Sparen grundsätzlich ablehnen würden – im Gegenteil: Bei Umfragen zeigen sie eine positive Einstellung zum Sparen. Nur benehmen sie sich, wenn es konkret ums Sparen geht, wie Oberschüler (und Schriftsteller): Sie spielen auf Zeit. Sie zögern es hinaus. In wirtschaftlichen Begriffen: Sie bewerten das Leben in der Gegenwart so viel höher als die Zukunft, dass Sparen ihnen wenig sinnvoll erscheint.
Das ist paradox. Denn obwohl Amerikaner nicht willens sind, um einer besseren Zukunft willen gegenwärtig Opfer zu bringen, erklären sie, diese künftig erbringen zu wollen, um ihre Langzeitaussichten zu verbessern. Obwohl sie also keinen Teil ihres heutigen Einkommens zu sparen gedenken, bekennen sie sich dazu, künftig beachtliche Teile ihres künftigen Einkommens auf die hohe Kante zu legen. Und das ist problematisch, da die Amerikaner es offenbar nicht fertig bringen, ihre künftigen Prioritäten richtig einzuschätzen. Es ist ja vielleicht sogar irgendwie begreiflich: Wir ändern uns, die Umstände ändern sich – wie könnten wir da zu wissen meinen, was wir in Zukunft wollen? Das bedeutet allerdings auch: Die Pläne, die wir in Voraussicht unseres morgigen Handelns machen, werden vielleicht nicht funktionieren. Um es auf den konkreten Punkt zu bringen: Wenn wir erklären, uns heute nicht ums Sparen zu kümmern, weil wir morgen damit anfangen werden, kann es auch nicht überraschen, wenn wir bei Anbruch des Morgens feststellen müssen, dass wir noch immer Geld ausgeben statt zu sparen.
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Bei der Debatte, ob Anleger rational oder irrational sind, geht es im Kern um die Frage: Ist der Börsenmarkt imstande, die Zukunft vorauszuerkennen? So unverblümt wird die Frage selten gestellt. Oft versucht man sie mit dem Hinweis zu umgehen, die eigentliche Messlatte bestehe darin, wie rasch der Markt auf Informationen reagiere. Doch es geht im Wesentlichen um etwas ganz anderes: Sind die Aktienpreise ein zuverlässiger Indikator dafür, wie viel Cash die Unternehmen in Zukunft generieren werden? Wenn der Pharmakonzern Pfizer aktuell einen Aktienwert von 280 Milliarden Dollar darstellt, müsste das Unternehmen – so es denn vom Markt richtig bewertet wird – im Laufe der nächsten zwei Jahrzehnte flüssige Mittel in Höhe von 280 Milliarden Dollar
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